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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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als würde dieser Kampf bis zu ihrem Todestag weitergehen.
    Als sie die Geschichte in der Zeitung gelesen hatte   – ihre Geschichte, die Geschichte der niños robados   –, da hatte ihr alles wieder vor Augen gestanden. Der Schmerz, das Leiden, die Tränen   … Aber auch die Erinnerung an die Täuschung, die Korruption war zurückgekehrt. Und sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie Zeugnis ablegen musste.
    Draußen im Hof gingen Schwester Josefina und Schwester María in freundschaftlichem Schweigen auf und ab. Schwester Julia sah ihnen zu. Ihr waren die Ruhe des spirituellen Rückzugs, die Zufriedenheit in Schweigen, Kontemplation und Gebet nicht vergönnt. In ihrem Inneren hatte immer ein Kampf getobt, ein Bedürfnis, sich zu offenbaren, und die Last, nicht zu wissen, wie sie das anstellen sollte. Enrique Marín hatte an jenem Tag auf der Klippe recht gehabt. Denn wennes jemanden gegeben hätte, dem sie von ihrer Rolle in der Geschichte um die gestohlenen Kinder hätte erzählen können, dann hätte sie es getan. Doch anscheinend existierte so jemand nicht. Und so zögerte sie immer noch. Sie wollte ihr Namensbuch offenlegen; sie wollte, dass diese Aufzeichnungen denjenigen zugänglich gemacht wurden, die sie brauchten, die davon betroffen waren. Einer Mutter vielleicht, die nie geglaubt hatte, dass ihr Sohn tot war, und jetzt versuchte, ihn zu finden. Einem Sohn oder einer Tochter, die inzwischen wussten, dass sie adoptiert waren und sich verzweifelt danach sehnten, ihre leiblichen Mütter aufzuspüren. Sie konnte diesen Menschen helfen. Aber sie wusste nicht, wie sie es anstellen sollte. Sie war Nonne, sie stand allein auf der Welt und führte ein Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit. Sie sprach mit so wenigen Menschen. Wie konnte sie das zuwege bringen? Sie hatte ein Zeichen gebraucht, ein Zeichen, das Gott ihr schickte, um ihr zu helfen. Und jetzt das.
    Wieder ging Schwester Julia zu ihrem Schreibtisch und zog die Schublade auf. Sie nahm die zarte weiße Spitzentischdecke heraus und dachte an das, was Enrique Marín ihr an jenem Tag erzählt hatte, als sie dort auf dem dunklen Felsabsatz gesessen hatten. Zuerst hatte er ihr sein Leben als armer Künstler geschildert, den Zwiespalt, in dem er früher gelebt hatte. Er wollte alles für seine Kunst geben, doch er hatte zu Hause eine Frau zu versorgen. Es verbitterte ihn, sich um die Ziegen zu kümmern und als kleiner Landwirt zu arbeiten, wo er in der Zeit doch hätte malen können. Er berichtete ihr von der überwältigenden Freude, als seine Arbeit endlich Anerkennung fand, als Menschen gutes Geld für seine Bilder zahlten und er auf der Straße angesprochen wurde.
    »Es ist mir zu Kopf gestiegen, Schwester«, erklärte er. »Ichwill mich nicht rechtfertigen, aber es ist mir zu Kopf gestiegen.«
    Schwester Julia hatte schon viel erlebt und wusste, dass Ruhm einem Menschen schaden konnte. Ruhm führte oft dazu, dass jemand seinen Sinn für das Wesentliche verlor und seine Macht missbrauchte. Hatte sie nicht mit Dr. López in Barcelona etwas Ähnliches erlebt? Natürlich war er nicht berühmt gewesen, aber hochgeachtet. Man hatte zu ihm aufgesehen und ihn als Autoritätsperson betrachtet, die immer wusste, was das Beste war. Das musste ihm zu Kopf gestiegen sein. Er hatte sich hinter Gottes Wort versteckt, um seiner Gier und seiner Grausamkeit freien Lauf zu lassen. Schwester Julia hatte sich nie gewünscht, dass er bestraft wurde. Wenn die Zeit des Arztes gekommen war, würde Gott ihm vergeben oder ihn strafen, wie Er es für richtig hielt   – falls das nicht schon geschehen war. Es war nicht Schwester Julias Aufgabe, ein Urteil über jemand zu sprechen. Und sie würde auch den Mann nicht verurteilen, der jetzt vor ihr saß.
    »Und was haben Sie getan, mein Sohn?«, fragte sie ihn. Doch sie wusste es bereits. Kaum dass er zu erzählen begonnen hatte, hatte sie gewusst, dass er der Ehemann der Frau aus dem Dorf war, die vor vielen Jahren zu ihr gekommen war und ihr dieses zarte weiße Spitzentischtuch geschenkt hatte. Schwester Julia sah immer noch den Ausdruck in den dunklen Augen der Frau, während sie ihre Geschichte erzählte, konnte ihre Verzweiflung immer noch spüren. Schwester Julia hatte oft für sie gebetet. Sie war verletzt, desillusioniert und enttäuscht gewesen. So ging es auf der Welt häufig zu.
    »Ich bin nicht stolz auf all das«, hatte Enrique Marín ihr erklärt und mit seinem immer noch ungezähmten Blick aufs Meer

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