Julias Geheimnis
tun? Betrübt sah er seinen Vater an. Er hatte etwas Groteskes. Er war nicht einmal mehr ein Schatten seines alten Selbst, sondern beinahe eine verzweifelte Karikatur davon.
»Bedeutende Persönlichkeiten wussten, woran ich glaubte.« Er schlug sich an die Brust.
Wovon redete er? Hatte er den Verstand verloren? Andrés sah seine Mutter an, doch die schien nicht zuzuhören. Natürlich war sein Vater vom alten Schrot und Korn, zumindest politisch, das wusste Andrés. Religiös war er nie gewesen – obwohl es gerade für ihn vielleicht ab und zu nützlich gewesen wäre, seine Sünden bekennen zu können und Vergebung erteilt zu bekommen. Obwohl er Künstler war, hatte sein Vater immer auf der Seite des Establishments gestanden. Aber …
»Und so haben deine Mutter und ich …« Zum ersten Mal zögerte Enrique und sah sich nach seiner Frau um. Er räusperte sich. »Man hat uns – und anderen – die Möglichkeit eröffnet, ein Kind zu adoptieren.«
»Ein Kind zu adoptieren?« Andrés hörte die Worte, doch sie ergaben für ihn keinen Sinn. »Ein Kind zu adoptieren?«, wiederholte er. Wieder sah er seine Mutter an. Warum sagte sie denn nichts?
Seine Mutter blickte zu Boden und knetete ihre Hände. »Andrés …«
»Adoptieren? Du meinst …« Doch er vermochte nicht, in Worte zu fassen, was sein Vater gemeint hatte.
»Wir haben dich adoptiert«, erklärte Enrique leise.
Und dann fühlte Andrés, wie sie ihn umarmte, seine Mutter, die er immer geliebt hatte und immer hatte beschützen wollen.
»Mich?« Er konnte immer noch nicht richtig denken. Wie war das möglich? Seine Gedanken überschlugen sich. »Wovon redet ihr?« Abrupt befreite er sich aus der Umarmung seiner Mutter, packte Enrique an den Schultern und konnte seine Hände kaum daran hindern, ihm den dürren Hals zuzudrücken. »Wovon zum Teufel redet ihr?«
»Bitte, Andrés!« Seine Mutter war auch da und zog mit ihrer verblüffenden Kraft an Andrés.
Plötzlich verpuffte seine Wut, einfach so, und er ließ los.
Sein Vater hustete, pfiff und röchelte. Andrés stand mit geballten Fäusten da.
»Ich kann es dir nicht verübeln, Junge«, sagte Enrique schließlich. »Ich kann es dir absolut nicht übel nehmen.«
45. Kapitel
M it offenem Mund lauschte Ruby der Geschichte, die Schwester Julia ihr erzählte. Niños robados … Schnell und konzentriert schrieb sie mit, denn sie wollte den Strom an Informationen, der aus der alten Nonne hervorsprudelte, nicht unterbrechen. Und sie wollte alles festhalten. Das war purer Sprengstoff.
»Gestohlene Kinder«, wiederholte sie. Sie hatte von den niños robados gehört – vage, so wie sie im Lauf der Jahre eine Menge Geschichten gesammelt und im Kopf abgelegt hatte. Aber sie konnte sich nicht an die Einzelheiten erinnern.
» Sí. « Schwester Julia nickte. »Und sie wurden gestohlen, mein Kind. So war es wirklich.« In ihren Augen stand eine tiefe Trauer.
Was es sie wohl gekostet hatte, diese Geschichte zu erzählen? Was hatte sie dafür an Mut und persönlichen Ängsten gezahlt?
Kurz lehnte sich Ruby zurück an den pockennarbigen Stein. Die Sonne wurde heißer. Sie saßen im Innenhof des Klosters Nuestra Señora del Carmen auf einer der Steinbänke im Schatten des Feigenbaums, der voller reifender Früchte hing. Trotz allem, was Schwester Julia ihr erzählt hatte, herrschte in dem Hof eine ruhige Stimmung. Und nun, nachdem die alte Nonne verstummt war, hörte Ruby nur noch das ferne Rauschen von Wind und Meer, das Scharren der Hühner auf dem staubigen Boden und das Plätschern des Springbrunnens.
Sie überflog ihre Notizen. Über die gestohlenen Kindermochte schon berichtet worden sein, aber das hier war etwas anderes. Dies war ein Bericht aus einem persönlichen Blickwinkel – und nicht aus dem eines der Opfer. Dies war die ungefilterte Stimme von jemandem, der unmittelbar in den Skandal verwickelt gewesen war. Und nicht nur das, es war die Stimme einer Nonne, und ihr Bericht warf mit Sicherheit ein ganz neues Licht auf die Rolle der katholischen Kirche im damaligen Spanien. Sie sah zu Schwester Julia auf, die sie geduldig beobachtete. War ihr die Tragweite dessen, was sie ihr soeben erzählt hatte, bewusst? Es schien so. Ruby wollte sie nicht aufregen oder unschöne Erinnerungen bei ihr aufrühren, aber sie musste alles wissen.
»War die Mutter Oberin daran beteiligt?«, fragte sie vorsichtig.
Doch Schwester Julia blieb gelassen und reagierte weder schockiert noch
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