Julias Geheimnis
entsetzt. Sie musste schon alles gesehen haben. Sie überlegte. »Ich glaube nicht«, erklärte sie schließlich. »Jedenfalls nicht direkt. Sie hat immer höchste Achtung vor dem Doktor zum Ausdruck gebracht.« Sie warf Ruby einen sanften Blick zu.
Aha. Der Hinweis lag in der Sprache, die sie gebraucht hatte. Zum Ausdruck gebracht . Dann hatte die Oberin vielleicht geargwöhnt, dass er kein Unschuldslamm war, aber sie hätte niemals etwas getan, um die Zustände zu ändern. Doch Schwester Julia hatte jetzt genug Staub aufgewirbelt, um dieses Versäumnis wieder auszugleichen.
»Was glauben Sie, über wie viele Jahre diese Praxis fortgesetzt wurde?«, erkundigte sich Ruby.
Schwester Julia seufzte. »Begonnen hat es sicherlich im Bürgerkrieg«, erklärte sie. »Und es ging mindestens bis Mitte der 1970er-Jahre weiter, vielleicht sogar länger.«
Ungläubig schüttelte Ruby den Kopf, obwohl sie sich vorstellen konnte, wieso diese Machenschaften so lange fortgesetzt werden konnten. Schließlich war Spanien eine Diktatur gewesen, in der Armut, Korruption und ungleiche Machtverteilung herrschten. Nach diesen emotionsreichen letzten Tagen und nach allem, was sie von Trish über Laura erfahren hatte, hatte sie nicht gedacht, dass sie in nächster Zeit noch etwas berühren könnte. Aber das …
»Glauben Sie, dass sich noch andere offenbart haben?«, fragte Schwester Julia. »Haben noch andere ihre Geschichten erzählt?«
Ruby konnte erraten, was sie dachte. Wenn sie schon von ihren Schuldgefühlen umgetrieben worden war, dann konnte es anderen, die damit zu tun gehabt hatten, nicht anders ergangen sein. Einige würden geredet haben, andere dagegen für immer geschwiegen. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. Das würde sie im Internet überprüfen müssen, sobald sie wieder im Hotel war. Aber wer würde so etwas zugeben? Sie spürte, wie ihr ein Kribbeln übers Rückgrat lief. Es war gut möglich, dass Sie mit dieser Geschichte auf Seite eins landen würde.
Wer würde sich dafür interessieren? Ruby lehnte sich zurück und ließ den Blick über den kleinen Glockenturm zum endlosen blauen Himmel über ihnen schweifen. Wer würde sich nicht dafür interessieren? Automatisch überflog sie die Liste von Redakteuren, die sie im Kopf hatte, und suchte nach möglichen Kandidaten. Die Geschichte war gefährlich, und sie war heiß, sehr heiß. Es würde zu Anklagen kommen.
Und sie war international. Ruby wurde klar, dass sie Hilfe brauchte. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Leah Shandon, eine der Redakteurinnen in London, für die sie regelmäßig schrieb. Keine Frage. Leah konnte sie vertrauen.
Schwester Julia stand auf. Sie war so alt, so zerbrechlich. Und doch hatte sie eine solche Stärke bewiesen. »Ich habe etwas, das ich Ihnen zeigen muss«, erklärte sie Ruby. »Würden Sie hier warten?«
»Selbstverständlich.« Während Schwester Julia sich entfernte, lauschte Ruby dem fernen Rauschen des Meeres. Es war so weit entfernt, dass es nicht mehr als ein Puls war, ein Herzschlag. Andrés, Andrés … schien es zu sagen. Denn wohin sie auch ging, mit wem sie auch sprach, was sie auch sah – alles erinnerte sie an ihn. Dies war seine Landschaft. Aber sie war sich sicher, dass sie ihn verloren hatte. Warum hatte sich diese Insel nur schon so tief in Rubys Seele eingeschlichen?
Hatte Mel recht? War Andrés es wert, für ihn zu kämpfen? Ruby dachte an ihre Eltern, an Tom und Vivien und dieses besondere Etwas, das die beiden geteilt hatten. Wie oft hatte sie sie zusammen beobachtet und sich gewünscht, sie könnte das mit jemandem haben? Aber vielleicht war das nicht so leicht zu erreichen. Vielleicht musste man für diese Art von Liebe Geduld aufbringen. Vielleicht musste man warten und Hindernisse überwinden, genau wie Vivien auf Tom gewartet und für ihn gekämpft hatte, als ihre Eltern sie unter Druck gesetzt hatten, in Kingston zum College zu gehen. Sie hatte zu ihm gestanden, obwohl sie beide noch so jung gewesen waren und er in Dorset lebte, hundert Meilen von Vivien entfernt. Wie bei Stuart und Mel konnte auch bei ihren Eltern nicht alles eitel Sonnenschein gewesen sein. Zuerst hatte sich ihre Mutter nach einem Baby gesehnt, und als dann Ruby auf der Bildfläche erschienenwar, musste dieser Druck ihre Beziehung ebenfalls belastet haben. Aber schließlich hatte er die beiden nur stärker gemacht.
Nach einigen Minuten kehrte Schwester Julia zurück. Sie drückte etwas an ihre Brust. Ruby sah, dass es
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