Julias Geheimnis
sie bewogen, endlich die Stimme zu erheben.
»Ich habe in der Zeitung vom Ausmaß des Skandals gelesen«, erklärte sie leise. »Es war nicht nur Dr. López’ Klinik. Es geschah nicht nur in Barcelona, sondern überall in Spanien.« Sie schaute sich um. »Sogar hier.«
Hier? Ruby folgte Schwester Julias Blick. Auf Fuerteventura? Das war schwer vorstellbar. Aber das war vieles andere auch, und doch war es deshalb nicht weniger wahr.
»Ich habe mit jemandem gesprochen, und mir wurde klar, dass ich meinen Teil der Geschichte erzählen sollte.« Schwester Julia sah in die Ferne, über das Beet mit den Kräutern und Pflanzen hinweg zu den Bergen, als hätte sie Rubys Anwesenheit vergessen.
»Und dann?«, half Ruby ihr auf die Sprünge.
»Und dann sind Sie gekommen«, sagte sie.
»Ich?«
»Sie sind gekommen, und zwar nicht nur als Enthüllungsjournalistin, mein Kind, sondern, was noch wichtiger war, auf der Suche nach Ihrer leiblichen Mutter. Sie waren ein Zeichen von Gott. Sie waren die, die meine Geschichte erzählen kann. Da wusste ich, was ich zu tun hatte.«
Ruby schlug das Buch zu und gab es ihr zurück. Das war ein ganz besonderes Dokument. Es würde vielleicht manche Leute in Schwierigkeiten bringen, und es konnte Schmerz verursachen. Aber es konnte auch dazu beitragen, viele Menschen aufzuklären und ein schlimmes Kapitel abzuschließen, ganz zu schweigen von den Familienzusammenführungen und dem Gefühl, endlich vollständig zu sein, was es für viele bedeuten konnte. Noch nie hatte jemand sie als Zeichen Gottes bezeichnet, aber sie konnte nachvollziehen, wieso Schwester Julia es so sah. Und wenn sie helfen konnte … »Überlassen Sie das mir, Schwester«, sagte sie. »Ich muss noch weiter recherchieren. Und dann …« Sie dachte kurz nach. »… muss ich vielleicht nach Barcelona.« Denn dort war alles geschehen. Sie musste die Klinik mit eigenen Augen sehen, musste mit anderen Leuten reden, die möglicherweise dort gearbeitet hatten. Und sie musste mehr über Dr. López herausfinden und das schreckliche Erbe, das er so vielen Familien hinterlassen hatte.
»Es sind die Kinder«, sagte Schwester Julia. »Verstehen Sie das? Ich vertraue darauf, dass Sie richtig, das heißt sensibel damit umgehen, mein Kind. Weil Sie es begreifen. Weil Sie selbst eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Ich will den Kindern helfen. Sie sind diejenigen, die unschuldig sind.«
»Natürlich.« Ruby spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Auch sie wollte den Kindern helfen. Vielleicht würde sie ihre eigene leibliche Mutter nicht finden, aber zusammen mit Schwester Julia würde sie ihr Bestes geben, damit diese Kinder ihre Mütter fanden.
46. Kapitel
A ndrés saß auf der blau gekachelten Bank am alten Hafen und spürte die Sonne warm auf der Haut. Der Hafen war der Ort, wo jeder vorbeikam. Ob auch sie vorbeikommen würde? Er hoffte es, obwohl er noch nicht wusste, was er ihr sagen würde.
Diese Wärme hatte ihm gefehlt. So oft hatte er schon hier gesessen und die bunten kleinen Fischerboote gemalt, die früher hier geankert hatten, oder die Fischer skizziert, die ihren glitzernden Fang auf den steinernen Steg hievten. Was er damals alles nicht gewusst hatte … Das schien alles in einem anderen Leben gewesen zu sein.
Er war immer noch dabei, das, was er erfahren hatte, gedanklich zu verarbeiten, die Tatsachen zu verdauen, wie die Engländer sagen würden. Er war ein Adoptivkind.
Als sie es ihm gesagt hatten, da hatte er fast von dem Moment an, in dem er die Worte hörte, den Wunsch verspürt, mit Ruby zu reden. Aber er hielt sich zurück. Er war nicht dagewesen, als sie seine Hilfe brauchte, oder? Warum sollte er das jetzt von ihr erwarten? Ruby … Ruby war doch diejenige, die nicht mehr wusste, wer ihre richtigen Eltern waren? Es war doch Ruby, die nach ihrer Identität suchte, nicht Andrés. Er hatte immer gewusst, wer er war, und keinen Moment daran gezweifelt. Er war der mit dem zornigen Vater. Er war der Sohn des großen Malers mit dem monströsen Ego, der kein Interesse an seiner Familie aus bloßen Sterblichen hatte – besonders nicht an dem Jungen, der angeblich einen Teil seineseigenen einzigartigen künstlerischen Talents geerbt hatte. Des Mannes, der seinen eigenen Sohn aus dem Haus geworfen hatte. Des Mannes, der ihn nicht liebte. Andrés hatte sich immer gefragt, warum das so war. Nun war es ihm klar.
Nachdem sie es ihm gesagt hatten, war Andrés’ Mutter zusammengebrochen.
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