Julias Geheimnis
ein großes, unbeschriftetes Notizbuch mit einem dunkelblauen Einband war.
»Das hier hat noch niemand gesehen, mein Kind.« Schwester Julia setzte sich neben Ruby auf die Steinbank. »Sie sind die Erste.«
Oh mein Gott! Was mochte das sein? Beweise für die Vorgänge? War das möglich? Ruby legte die Hand auf Schwester Julias Arm. »Sind Sie sich sicher, dass Sie wollen, dass diese Geschichte erzählt wird?«, fragte sie. »Ich kann nicht genau beurteilen, wie die Folgen vielleicht aussehen.« Denn Schwester Julia hatte ja vermutlich ein Verbrechen begangen. Hunderte von Verbrechen, Beihilfe zur Kindesentführung über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren.
Sie sah die alte Frau an, die neben ihr saß, betrachtete ihr faltiges Gesicht und die braunen Augen, die im Alter milchig und blass geworden waren. Ob sie wohl ungestraft davonkommen würde? Würden ihr Alter und ihre geistliche Berufung ihr den Straferlass einbringen, den sie nach Rubys Meinung verdiente? Einen Moment lang versetzte sich Ruby an Schwester Julias Stelle. Hätte sie damals die Stimme erhoben und damit riskiert, zur Strafe für die Vorgänge, deren Zeuge sie geworden war, aus dem Kloster geworfen zu werden oder Schlimmeres? Wäre sie in der Lage gewesen, sich gegen Autoritätspersonen wie diesen Arzt und die Mutter Oberin aufzulehnen, die behauptet hatten, Gottes Werk zu tun? Sie schüttelte den Kopf. Als Kind dieser Zeit wahrscheinlich nicht. Und wie konnte man ein Urteil fällen, ohne es selbst erlebt zu haben?
»Die Folgen werden so sein, wie Gott will«, antwortete Schwester Julia und neigte den Kopf. »Wer Unrecht getan hat, wird auf Erden bestraft werden – und auch im Himmel, wenn Gott es so entscheidet.« Sie reichte Ruby das Buch. »Aber Er ist ein gnädiger Gott, mein Kind«, sagte sie. »Wir müssen auf Ihn und Seine Weisheit vertrauen.«
Ruby hoffte, dass sie recht hatte. Sie nahm das Buch entgegen und schlug es auf. Die Seiten waren mit einer verblassten, fast unleserlichen Handschrift gefüllt. Mit einer spanischen Handschrift, wie ihr klar wurde. Jemand – Schwester Julia? – hatte die erste Seite in drei Spalten aufgeteilt. Jede hatte eine Überschrift, und alle Spalten waren voll.
Schwester Julia zeigte auf die erste Überschrift.
Ruby erkannte das Wort. Niños .
»Kinder«, erklärte Schwester Julia. Jedes war als chico oder chica – Junge oder Mädchen – bezeichnet, und manchmal stand noch mehr dabei, vielleicht ein besonderes Merkmal. Neben jedem Eintrag befand sich ein Datum. Sie zeigte auf die zweite Überschrift. »Leibliche Eltern«, erklärte sie. Und die dritte Spalte. »Die Leute, die das Kind mitgenommen haben. Die Adoptiveltern.«
Ruby starrte auf die Seite, sah Schwester Julia an und starrte dann wieder in das Buch. Die Hühner in dem Pferch neben dem Hof scharrten weiter in der trockenen Erde, und eine der Ziegen legte sich auf den Boden, um auszuruhen. »Sie meinen …« Sie blätterte die nächste und die übernächste Seite auf. Die Liste ging weiter.
»Ja«, sagte Schwester Julia. »Dies, mein Kind, ist mein Namensbuch.«
Namensbuch. Ja, das war es wirklich. Ruby blätterte die Seiten weiter um, jetzt beinahe ehrfürchtig, da sie ihre wahre Bedeutung kannte. Die Auswirkungen, die das haben konnte …
»Es gab keine Aufzeichnungen.« Schwester Julia schaute sie gelassen an. »Dokumente wurden vernichtet. Man erzählte Frauen, ihre Kinder seien gestorben. Unvollständige Geburtsurkunden und falsche Totenscheine wurden ausgestellt und abgestempelt.« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Ich machte mir Sorgen, dass niemand je die Wahrheit erfahren würde.«
»Und so haben Sie Ihre eigenen Aufzeichnungen geführt«, sagte Ruby. Sie konnte es kaum glauben. Wie konnte man diese Frau bestrafen, nachdem sie so mutig gehandelt hatte? »Sie haben Ihre eigenen Aufzeichnungen geschrieben, weil Sie wussten, dass es falsch war.«
» Sí .« Schwester Julia nickte.
»Sie wussten, dass es falsch war, den Adoptivkindern dieses Wissen vorzuenthalten«, flüsterte Ruby. Wieder dachte sie an Vivien und Tom. Auch Vivien hatte begriffen, dass es verkehrt war. Sie hatte Tom nicht wehtun wollen, aber auch sie hatte so etwas wie Aufzeichnungen hinterlassen – für Ruby. Damit sie ebenfalls in der Lage war, die Wahrheit aufzudecken.«
»Allerdings«, sagte Schwester Julia.
»Aber warum ausgerechnet jetzt?«, wollte Ruby von ihr wissen. Schwester Julia hatte so lange geschwiegen. Was hatte
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