Julias Geheimnis
sah betreten drein. »Du hast recht. Du hattest recht, als du versucht hast, mich aufzuhalten, damals.«
Andrés war sprachlos. Wenn das so war, wieso hatte er dann all diese Jahre in der Verbannung leben müssen? Warum zum Teufel hatte sein Vater keinen Kontakt zu ihm aufgenommen und ihm gesagt, dass er jetzt zu Hause wieder willkommen war?
»Außerdem ist all das schon lange vorbei, das versichere ich dir.« Er nickte, obwohl Andrés meinte, einen Hauch vonNostalgie in seinem Blick zu entdecken. Nun ja, so sehr konnte ein Mann wie Enrique Marín sich eben doch nicht ändern.
»Gott sei Dank.« Zumindest freute sich Andrés für seine Mutter. Zweifellos fand Enrique dafür andere Arten, sie zu demütigen. Aber die Frauen … Das mit den Frauen war das Schlimmste gewesen.
»Ich habe mich deiner Mutter gegenüber nicht anständig verhalten.« Enrique wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt.
Er hielt sich die Seite. Andrés wurde klar, dass er Schmerzen hatte. Er trat einen Schritt vor. »Papa?«
»Und ich habe dich verdammt noch mal gehasst, weil du mir den Spiegel vorgehalten hast«, knurrte er.
Auch das war logisch. Andrés blieb wie angewurzelt stehen. Da war Enrique, der große Mann, und da war sein junger Sohn, ein Grünschnabel, nichts weiter, der seinem Vater sagte, was er zu tun und zu lassen hatte. Inzwischen staunte Andrés selbst darüber, dass er den Mut dazu aufgebracht hatte. »Was wusste ich schon?«, sagte er leise.
»Was wusstest du schon?« Enrique lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und zog ein Zigarrenpäckchen aus der Hosentasche. Er schüttelte einen Stumpen heraus und hielt ihn zwischen seinen von Nikotin und Farbe fleckigen Fingern. Dann stieß er ein kehliges Kichern aus. »Die Ehe, was? Niemand warnt einen, oder? Für manche Menschen ist sie eben nicht für immer. Man versucht es, aber … Verdammt!« Er zog ein Streichholzbriefchen hervor, zündete die Zigarre an und zog hustend daran.
Am liebsten hätte Andrés ihn aufgehalten, aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Er tat immer, was er wollte –heute genau wie damals. Niemand konnte Enrique Marín Vorschriften machen. Außerdem kam es nach dem, was ihm seine Mutter erzählt hatte, mittlerweile kaum noch darauf an, ob er rauchte oder nicht.
»Andere suchen vielleicht nach Wegen, diese Ehe zu erhalten.« Er sah Andrés taxierend an. »Verstehst du, Junge?«
Junge . Das würde er für Enrique Marín immer sein. Ein Junge . Trotzdem war es vielleicht das erste Mal, dass sein Vater so mit ihm sprach. Hätte er das während Andrés’ Jugend getan, wenigstens einmal, hätte er versucht, mit ihm zu reden und ihm ab und zu nur ein paar Minuten seiner Zeit geschenkt, dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. »Du hast mir den Gedanken ans Heiraten wohl für immer ausgetrieben«, erklärte er nachdrücklich. Ein schönes Vorbild war sein Vater gewesen …
»Ha!« Enriques Schultern bebten. »Das habe ich getan, ja? Na, dann habe ich in meinem Leben ja wenigstens etwas geschafft, auf das ich stolz sein kann.«
Andrés schüttelte verzweifelt den Kopf. Enrique war unberechenbar. Er mochte zugegeben haben, dass er sich falsch verhalten hatte, aber er hatte auch immer eine Ausrede für alles parat. Andere Menschen schafften es, ihr Leben lang eine intakte Ehe zu führen. Zumindest liefen sie nicht herum und verführten Mädchen, die so jung waren, dass sie ihre Töchter hätten sein können. Apropos …
Andrés holte tief Luft. »Ich möchte dich nach einer dieser Frauen fragen«, erklärte er. Er ging zum Fenster. Jetzt oder nie .
Enrique zog heftig an der Zigarre und unterdrückte ein Husten. »Komisch«, meinte er. »Es war schon jemand hier, der sich nach einer der Frauen erkundigt hat, die ich gemalt habe.«
Ruby. Andrés reckte die Schultern. »Ja, ich weiß.«
»Aha.« Sein Vater stieß ein raues Lachen aus. »Jetzt verstehe ich.«
Tatsächlich? Wie war das möglich? Andrés wappnete sich für die Antwort. Wenigstens war er hergekommen. Wenigstens hatte er es versucht.
»Du willst also über Laura Bescheid wissen.« Enrique dachte nach. »Das englische Mädchen. Der Freigeist.«
»Ja, so ist es.«
»Dann werde ich dir dasselbe zeigen wie ihr. Sie ist deine Freundin, stimmt’s?« Langsam stand er auf und drückte die Zigarre in einem Glasaschenbecher aus.
Andrés sah ihm zu, wie er zu einem Stapel Leinwände ging, die an der Wand lehnten. Er beugte sich hinunter und ging sie seufzend
Weitere Kostenlose Bücher