Julias Geheimnis
sich über die Schultern geworfen. Jetzt stand er von der Bank auf. Sie würde nicht kommen. Warum auch? Sie wusste ja nicht einmal, dass er hier war. Er ging vom Hafen zur alten Anlegestelle, wo das Meer tief und die Strömung stark war.
Das Schwimmen tat ihm gut. Kräftig und schnell gegen die Strömung zu schwimmen, hielt ihn vom Denken ab, und Andrés wollte nicht denken. Doch obwohl das Wasser in seinen Augen brannte und seine Muskeln von Anstrengung pochten, kam der Gedanke immer wieder. Er war adoptiert. Man hatte ihn weggegeben – oder vielleicht sogar gestohlen. Er war von einem Mann gestohlen worden, der ihn nicht einmal geliebt hatte.
Wer bin ich? Andrés schwamm aufs offene Meer hinaus. Er wusste nicht, wie lange er dort draußen blieb. Irgendwann wurden die Wellen so hoch, und die Strömung war so stark, dass er befürchtete, zu weit hinausgeschwommen zu sein. Er hatte Angst, dass das Meer ihn hinausziehen könnte, bis er ertrank. Aber natürlich passierte das nicht, denn er war ein guter Schwimmer. Er schwamm einfach immer weiter, während sich alles, was seine Eltern ihm gesagt hatten, in seinem Kopf drehte.
»Du warst alles, was ich mir gewünscht habe«, hatte sein Vater ihm erklärt.
Auf diese Worte hatte er seine gesamte Kindheit gewartet. Aber … »Wann hat sich das verändert?«, fragte Andrés.
Darauf hatte sein Vater keine Antwort gewusst.
Vielleicht war es passiert, als Andrés zu malen begann. Es war möglich, dass er Enrique wie ein Usurpator, wie ein Eindringling von außen vorgekommen war. Oder es lag daran, dass Andrés gewagt hatte, sich gegen ihn aufzulehnen. Vielleicht hatte Enrique da erkannt, dass er Andrés niemals lieben konnte – ganz einfach, weil er nicht sein eigenes Kind war.
»Manchmal hätte ich es dir am liebsten ins Gesicht geschrien, dass du nicht von mir bist«, hatte sein Vater gestanden.
»Und jetzt hast du es getan«, sagte Andrés ausdruckslos.
»Jetzt ist das etwas anderes.« Sein Vater trat zu ihm und legte ihm eine dürre, knochige Hand auf die Schulter. »Ich schreie es nicht im Zorn. Ich sage es dir jetzt, weil es das Richtige ist. Auch ich bin jetzt ein anderer. Jetzt weiß ich, was ich alles falsch gemacht habe.« Er hustete heftig. »Das ist einer der Vorteile, wenn man stirbt, mein Junge. Aber es ist auch der einzige.«
Mein Junge … Am liebsten hätte Andrés diese Hand ergriffen, sie festgehalten, seinen Vater sogar in die Arme geschlossen. Aber er konnte es nicht, immer noch nicht. »Warum habt ihr mir das nicht früher erzählt?«, fragte er stattdessen. Er erinnerte sich daran, dass Ruby dieselbe Frage gestellt hatte. Warum hatten sie es ihr nicht gesagt? Es war nichts Ungewöhnliches, ein Kind zu adoptieren. Warum hatten sie beschlossen, so ein Geheimnis daraus zu machen?
»Deine Mutter hat mich davon abgehalten. Aber ich glaube, sie hat immer gewusst …«
Dass Enrique ihm die Wahrheit sagen würde, falls er zurückkam. Deswegen hatte sie Andrés also all die Jahre lang praktisch darin bestärkt, nicht zurückzukommen.
Nichts hat sich geändert …
Ach, Mama.
Da kam sie zu ihm, zu ihnen beiden, und plötzlich hielt Andrés seine Eltern in den Armen und spürte, wie sie ihn umarmten – vielleicht zum ersten Mal. Ein eigenartiges Gefühl war das. Familie …
Als Andrés das Ufer erreichte und sich an den Strand schleppte, war er völlig erschöpft. Am nahen Strand hielten sich einige Paare und Familien auf, aber niemand schenkte ihm Beachtung. Er hätte auch ertrinken können.
Er sackte in einem corralito zusammen und lag dann auf dem Rücken da. Seine Brust hob und senkte sich, und er hatte die Augen geschlossen, weil ihn die Sonne blendete. Er spürte, wie ihre Wärme seinen Körper nach und nach durchdrang. Wie gut kennt man seine eigene Familie? Nicht besonders gut anscheinend. Wenigstens das hatten Ruby und er gemeinsam.
Später holte er Isabella mit dem Auto ab, und sie fuhren zum Centro de Arte . Während sie durch das Kunstzentrum schlenderten, an dessen Gründung ihr Vater beteiligt gewesen war, erzählte er ihr die Geschichte. Er hatte das Zentrum sehen müssen, und trotz allem konnte er nicht umhin, Stolz zu empfinden.
Isabella lauschte ihm schweigend. Als er geendet hatte, warf sie sich in seine Arme, ohne sich um die Menschen um sie herum und ihre neugierigen Blicke zu kümmern.
»Das ändert nichts, Bruder«, sagte sie, als sie sich schließlich von ihm löste. Ihre dunklen Augen funkelten
Weitere Kostenlose Bücher