Julias Geheimnis
Andrés selbst war wie betäubt gewesen. Was empfand er? Was konnte er empfinden? Seine Kindheit, seine Familie, alles, woran er geglaubt hatte, war ihm genommen worden. Und genau das hatte auch Ruby gespürt. Sie waren beide adoptiert. War es das, was sie irgendwie zueinander hingezogen hatte? Oder waren es die Jahre, in denen sie nicht einmal davon gewusst hatten?
Seine Mutter hatte geweint und geweint und sich an ihn geklammert. Und Andrés hatte sie getröstet, ihr versichert, dass sich nichts geändert habe. Dass er sie noch immer liebe und immer lieben werde. Und warum auch nicht? Sie hatte ihn großgezogen und für ihn gesorgt. Aber er stellte sich Fragen. Hatte sie mit der Drohung ihres Mannes, alles zu enthüllen, leben müssen, seit er fortgegangen war? Andrés hatte ihr übers Haar gestreichelt und begütigende Worte gemurmelt. Aber über ihren Kopf hinweg hatte er Enrique angesehen, der seinem Blick nicht standhalten konnte. Warum sagte sein Vater nichts? War ihm nicht klar, dass das seine Aufgabe war?
»Wer waren meine leiblichen Eltern?«, fragte Andrés die beiden schließlich. Die Frage kam ihm seltsam vor, beinahe surreal. Er war immer noch wie vom Donner gerührt, und doch hatte er es begriffen. In gewisser Weise war es eigentlich keine Überraschung gewesen. In gewisser Weise ergab jetzt alles einen Sinn für ihn – das eigenartige Gefühl, am falschen Platz zu sein, das ihn manchmal beschlich, der Eindruck,nicht dazuzugehören, missverstanden zu werden. Er holte tief Luft. »Erzählt mir, was passiert ist. Erzählt mir alles.«
Und was er dann erfahren hatte, war beinahe noch schockierender.
Andrés sah über den Hafen und das glitzernde Meer hinaus zum Horizont. Es war ein Tag voller Erschütterungen gewesen. Ihm drehte sich immer noch der Kopf.
»Wir wissen nicht, wer deine leiblichen Eltern waren«, hatte seine Mutter erklärt. »Niemand weiß das. Das lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.« Und sie erzählte ihm von der Klinik und davon, dass es keine Aufzeichnungen gab. Und sie erzählte ihm von der Bezahlung.
Was zum Teufel …? »Ihr habt für mich bezahlt?« Ungläubig sah Andrés zwischen den beiden hin und her.
»Es war alles legal und offiziell«, beharrte Enrique.
Legal und offiziell? Wem wollte er hier etwas vormachen? Dass sie für ihn bezahlt hatten, gab Andrés das Gefühl, nicht viel mehr zu sein als ein schickes neues Auto. Nur, dass er nicht genauso schick war. Er war eine Enttäuschung gewesen, zumindest für seinen Vater.
Andrés sah einem Schwarm Tauben zu, der über den Hafen hinwegflog. Jedes Mal, wenn die Tauben ihren Schlag passierten, lösten sich ein paar Versprengte aus der Hauptgruppe, sodass der Schwarm geschwächt wurde.
»Aber warum gibt es denn keine Aufzeichnungen? Was ist mit meiner Geburtsurkunde?«, fragte er.
Erst da hatte sein Vater ihm die ganze Geschichte erzählt. Dass die Adoption klammheimlich abgewickelt worden war. Dass die Verhältnisse in Spanien seit dem Bürgerkrieg – nein, eigentlich schon vorher – in Unordnung gewesen waren.Dass es viele ungewollt schwangere Frauen gegeben hatte oder solche, die keinen Mann hatten, der für sie sorgte. Dass sich diese Frauen für ihre Kinder ein gutes, ein anständiges Leben wünschten, das sie ihnen nicht bieten konnten. Dass Francos Gesetz, dass in den Geburtsurkunden die Namen der Adoptiveltern stehen sollten, benutzt worden war, um die Wahrheit zu verschleiern.
»Haben die Mütter ihre Kinder denn freiwillig hergegeben?«, hatte Andrés ihn leise gefragt.
»Nein.« Enrique sah ihm offen in die Augen. »Ich habe Grund zu der Annahme, dass Korruption eine Rolle gespielt hat und dass die Mütter ihre Kinder nicht immer freiwillig hergegeben haben.«
Die letzten Tauben kehrten in den Taubenschlag zurück. Alle bis auf eine. Andrés bemerkte, dass ein einziger Nachzügler noch immer allein herumflog und offensichtlich nicht wusste, wo er hinsollte. Er wusste, wie sich dieser Vogel fühlte.
»Und Isabella?«, hatte Andrés gefragt, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte. Isabella hatte anders als er immer dazugehört. Wenigstens hatte Enrique Marín sie geliebt.
»Das ist das Merkwürdige. Drei Jahre, nachdem wir dich geholt hatten, kam sie – auf natürliche Weise.« Enrique Marín zuckte die Achseln. »So etwas kommt manchmal vor.«
Endlich hatte der Nachzügler nach Hause gefunden, und der Himmel war wieder frei.
Andrés hatte ein Handtuch mitgenommen und es
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