Julias Geheimnis
die bei der Trennung ihrer Eltern viel durchgemacht haben musste. Dass sie so bald nach der Scheidung fortgegangen und vollkommen vom Radar ihrer Eltern verschwunden war, hatte schon damals wie ein Akt der Rebellion gewirkt. Vielleicht war es ihr schwergefallen, ihren Eltern die Trennung zu verzeihen, oder sie hatte einfach das Bedürfnis gehabt, das Chaos zu Hause hinter sich zu lassen. Was immer der Grund gewesen war, Laura war gegangen und hatte selten zurückgeblickt.
»Warum hat sie mir nichts davon gesagt?« Aus weit aufgerissenen blauen Augen starrte Laura sie anklagend an.
»Wovon?«
»Dass sie krank ist. Dass sie sterben muss.«
Auch das hatte Vivien vorausgesehen. »Sie hat versucht,tapfer zu sein, Laura«, sagte sie, obwohl sie tief im Inneren die Meinung des Mädchens teilte. Natürlich hätte man es ihr sagen müssen. Arme Laura. Sie fühlte mit ihr.
»Tapfer!« Laura schüttelte den Kopf, als könne sie es nicht glauben.
Vivien ahnte, wie sie sich fühlte. Pearl hatte vielleicht in bester Absicht gehandelt, aber es war einfach nicht fair, der eigenen Tochter zu verschweigen, dass man nicht mehr lange zu leben hatte. Pearl war fest entschlossen gewesen, keinen Druck auf Laura auszuüben, damit sie zurückkam und sie besuchte. Aber damit hatte sie ihrer Tochter auch die Möglichkeit genommen, sich zu verabschieden.
»Wo warst du?« Vivien führte Laura ins Wohnzimmer. Automatisch steckte sie ihren Pinsel ins Wasserglas, als sie am Tisch vorbeikam. Als du die Nachricht bekommen hast , meinte sie.
»In Spanien.«
»Oh.« Eigentlich war es egal, wo sie gewesen war. Vivien deutete auf die Couch, und Laura setzte sich auf den Rand, als wolle sie gleich wieder flüchten. Ihre Handgelenke waren knochig, und ihre gebräunten Finger spielten ständig mit einem Faden an der Decke in dem Korb, den sie neben sich auf das Sofa gestellt hatte. Auch ihr Gesicht war tief gebräunt. Sie sah so anders aus. Mit zwanzig schon wettergegerbt, dachte Vivien.
»Ich musste das Geld für die Rückfahrt auftreiben«, erklärte Laura. »Das war nicht einfach.«
»Hat dein Vater dir kein …«
»Nein«, unterbrach Laura sie, und ihre Miene verhärtete sich. »Ich will keinen Penny von ihm.«
Vivien nickte. Auch das konnte sie nachvollziehen. »Ichmache dir einen Tee«, erbot sie sich, obwohl das Mädchen aussah, als könne es etwas Stärkeres vertragen.
»Danke.«
In der Küche stellte Vivien eine Bestandsaufnahme an. Vor ein paar Monaten hatte Pearl ihren Kampf gegen den Krebs verloren. Sie hatte die letzten zwei Monate in einem Hospiz verbracht. Vivien hatte sie täglich besucht und miterlebt, wie sie immer weniger wurde. Es war ein qualvoller Tod gewesen.
Und jetzt war Laura nach Hause gekommen …
»Nimmst du Zucker?«, rief sie. Was sollte sie ihr sagen? Wie konnte sie ihr dabei helfen, mit dem Verlust ihrer Mutter fertigzuwerden?
»Ein Stück bitte.«
Aus dem Zimmer nebenan hörte Vivien ein Schniefen. Oh Gott, Laura weinte. Sie war in ein Land zurückgekehrt, in dem sie sich fremd fühlen musste, und in ein Haus, das ohne ihre Mutter kein Heim mehr war. Und jetzt …
Mit dem Teetablett eilte Vivien zurück. Vielleicht sollte sie Laura vorschlagen, eine Weile bei ihnen zu wohnen. Sie sollte nicht allein sein. Das Mädchen brauchte Zeit, um sich wieder in das Leben in England einzufinden; Zeit, um den Tod seiner Mutter zu verarbeiten. Ob sie sehr knapp bei Kasse war? Wusste ihr Vater überhaupt, dass sie wieder da war? Sie würde einen Job brauchen. Sie …
Vivien blieb wie angewurzelt stehen. »Laura!?«
»Hmmm?«
Es war nicht Laura, die weinte. Es war ein Baby. Laura hielt es auf dem Arm. Es war noch halb in die Decke gewickelt, die sich ebenso wie das Kind in dem Korb befunden haben musste, den Laura bei sich trug. Das Baby wimmerte und nuckelte an Lauras Hals herum.
Vivien setzte das Tablett ab, sonst hätte sie es womöglich noch fallen lassen. »Du hast ein Kind«, erklärte sie überflüssigerweise.
»Ja.« Laura sah aus, als hätte sie sich selbst noch nicht an den Gedanken gewöhnt.
»Wann ist es geboren?«
Laura sah das Kind in ihren Armen an. »Vor ein paar Monaten«, sagte sie. »Ich weiß es nicht mehr genau.«
»Du erinnerst dich nicht?« Das musste Vivien erst einmal verdauen. Sie trat näher an das Sofa heran und betrachtete die Kleine, die gerade erst aufgewacht war. Es war eines der hübschesten Babys, die Vivien je gesehen hatte.
Laura zuckte die Achseln, als spiele das
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