Julias Geheimnis
konnte.
»Ich bleibe noch eine Weile.« Laura starrte noch immer aus dem Fenster, und Vivien argwöhnte, dass sie es nicht abwarten konnte, von hier zu verschwinden.
»Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen«, versprach Vivien. »Ich nehme dir auch das Baby ab, so oft es geht.« Und das lag nicht nur daran, dass ihr Laura leidtat, und es war auch nicht nur wegen Pearl. Es gab noch einen anderen Grund.
»Danke.« Laura sah sie an. Sie erinnerte Vivien auf gerade unheimliche Weise an das Baby, ihre Tochter. Einst war Lauras strähniges Haar auch so ein zarter Flaum gewesen, einst war auch sie unschuldig und hilflos gewesen. Und heute …
»Wer ist ihr Vater?«, fragte Vivien. »Ist er zusammen mit dir hier?«
»Nein.« Laura traten die Tränen in die Augen.
Behutsam zog Vivien dem Baby den Sauger aus dem winzigen Mund und wischte ihm ein Milchrinnsal vom Kinn. Sanft klopfte sie der Kleinen den Rücken und spürte unter dem weißen Jäckchen den weichen Babyspeck. Ein Gefühl von Zufriedenheit überkam sie. So fühlte es sich also an.
»Ich bin jetzt mit Julio zusammen. Er ist ein netter Typ«, erklärte Laura, richtete sich gerade auf und wirkte zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen lebhaft. »Wir sind mit dem VW aus Spanien gekommen.«
»Das ist gut.« Vivien war froh, dass sie jemanden hatte. Sie fragte sich, wo der VW stand. Laura klang, als würde sie lieber in dem Campingbus wohnen wollen als im Haus ihrer Mutter. Sie konnte es ihr nicht verübeln.
»Wir sind unheimlich oft angehalten worden«, beschwertesich Laura. »Sie haben uns auf dem Kieker, wegen unseres Aussehens und wegen des Busses.«
»Wirklich?« Vielleicht lag es ja auch an den Drogen.
»Aber es ist trotzdem ein tolles Leben.« Lauras Blick nahm einen träumerischen Ausdruck an. »Die Freiheit der Straße, verstehen Sie. Keine Regeln oder Vorschriften. Anhalten, wo man will. Aufwachen und hören, wie der Regen auf das Blechdach trommelt.« Sie lachte verlegen. »All das.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Obwohl Vivien das nicht konnte, nicht wirklich. Zwangloser Drogenkonsum, Partys, die Regeln nicht einhalten. Ihr Leben sah ganz anders aus. Ihre größte Rebellion war gewesen, dass sie schon vor ihrer Heirat mit Tom zusammengelebt hatte.
»Ich gehe dann lieber mal«, sagte Laura. »Er wartet bestimmt auf mich.«
»In Ordnung.« Doch Vivien wollte nicht, dass sie ging. Genauer gesagt wollte sie nicht, dass das Baby wieder verschwand. »Wie heißt sie?«, flüsterte sie, denn der erstaunlich schwere Kopf des Kindes war auf ihre Schulter gesunken. Die Kleine schlief. So schnell. Es war einfach unglaublich.
Laura sah das kleine Mädchen an.
Vivien konnte den Blick nicht vollständig deuten, aber es lag Frustration darin.
»Ruby«, sagte sie. »Sie heißt Ruby.«
14. Kapitel
BARCELONA 1942
I hre Arbeit in der Canales-Klinik begann jeden Tag mit den Morgengebeten. Dr. López hatte Schwester Julia gebeten, diese Pflicht zu übernehmen, und sie hatte es gern getan. Anschließend half sie beim Bettenmachen, wusch Patientinnen und brachte ihnen das Frühstück. Nachdem die Krankenschwester Temperatur und Blutdruck gemessen hatte, war es dann Zeit für Dr. López’ Morgenvisite. Die Klinik war nicht groß. In dem Krankensaal im ersten Stock, an den sich zwei kleine Kreißsäle anschlossen, standen nur acht schmale Betten. Wie im Hospital befanden sich am Ende des Flurs ein Fäkalienraum, die Toiletten und die Sterilisierausrüstung. Dahinter lag noch eine kleine Küche.
An diesem Morgen blieb der Arzt am Bett von Ramira stehen. Sie war auf eine Anzeige in der Lokalzeitung hin gekommen. In dieser Anzeige versprach Dr. López gefallenen Frauen, die sonst niemanden hatten, Hilfe in der Not. Als Schwester Julia davon gehört hatte, war sie beeindruckt von der Freundlichkeit des Arztes gewesen. Er schien den Wunsch zu hegen, die Einrichtungen der Klinik für jeden zugänglich zu machen, der sie brauchte. Und was noch besser war: Seine Patientinnen mussten weder reich noch verheiratet sein. Dr. López zog es sogar vor, wenn sie es nicht waren. Wie er erklärte, half er lieber den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft und war nicht an materiellem Lohn interessiert.
»Mein einziges Ziel ist, diesen armen Frauen zu helfen, Schwester Julia«, erklärte er. »Ich will nur die Arbeit tun, die Gott mir bestimmt hat.«
Dr. López behandelte diese Frauen allerdings, als könnten sie von Glück reden, hier sein zu dürfen. So war es
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