Julias Geheimnis
Vielleicht würden Sie aber auch akzeptieren, dass es nicht sein sollte …
Behutsam zog sie die Flasche aus dem Mund des Babys, damit es kurz Luft holen konnte und sich nicht verschluckte. Das Baby blinzelte, und sie hielt ihm die Flasche wieder hin. Vivien versuchte, sich mit ihrer Kinderlosigkeit abzufinden. Sie wusste, dass sie ein gutes Leben hatte: Sie hatte Arbeit, sie hatte ihre Malerei, und sie hatte Tom.
»Viele Menschen entscheiden sich, keine Kinder zu bekommen«, hatte Tom gesagt, vielleicht, damit sie sich besser fühlte. Aber das war ja gerade das Problem: Vivien hatte diese Wahl nicht. Es war nicht das Ende der Welt, und wenn es nicht sein sollte, dann würde sie das bewältigen. Aber trotzdem, dachte sie und schaute auf das Kind in ihren Armen hinunter. Trotzdem …
»Warst du in Spanien, als du sie bekommen hast?«, fragte Vivien.
»Ja.« Laura war noch tiefer ins Sofa gesunken, sodass es aussah, als hätte das Möbelstück sie halb verschluckt. Sie hatte ihren Tee getrunken und mindestens sechs Plätzchen gegessen. Das Leben musste schwer sein in Spanien, dachte Vivien.
»Wie war das Krankenhaus? Ist alles gut verlaufen?« Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen.
»Ich hab sie nicht im Krankenhaus gekriegt.« Laura gähnte.
Oh. »Wo dann?«
»Im Campingbus.«
»Im Campingbus?« Vivien versuchte, nicht allzu schockiert auszusehen. Wie konnte man ein Kind in einem Campingbus bekommen? Das war nicht gerade hygienisch.
»Wir haben Laken und so was genommen«, erklärte Laura. »Und wir hatten heißes Wasser.«
Vivien sah auf das Baby hinunter. »Das muss schwer gewesen sein«, meinte sie. Doch sie stellte sich auch andere Fragen, zum Beispiel, wer die Nabelschnur durchtrennt hatte. Hatte Laura Schmerzmittel gehabt – oder hatte sie etwas geraucht?
»Wir schlafen da ja auch.« Jetzt klang Laura, als fühle sie sich angegriffen.
Vivien lächelte ihr beruhigend zu. »Gesund sieht sie jedenfalls aus«, sagte sie. Und so war es. Das Baby war klein, hatte aber perfekte Körperformen. Die Wangen der Kleinen waren leicht gerötet, doch nachdem sie jetzt ihre Milch bekommen hatte, war sie ein Bild der Zufriedenheit. »Du warst doch nicht allein bei der Geburt, oder?«
»Nein.« Weiter ließ Laura sich nicht aus.
Am liebsten hätte Vivien ihr noch so viele Fragen gestellt. Doch etwas in Lauras Miene gebot ihr Einhalt. Um Himmels willen, die junge Frau hatte gerade ihre Mutter verloren. Es war nicht von Bedeutung. Nichts von alldem war wirklich wichtig.
»Was sagtest du noch, wann die Kleine geboren ist?«, fragte sie munter.
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich mich nicht genau erinnere.« Jetzt klang Laura mürrisch. »Vor ein paar Monaten. Ist das wichtig?«
»Nun ja, für sie schon.« Vivien bemühte sich um einen ungezwungenen Tonfall. »Woher soll sie sonst wissen, wann sie Geburtstag hat?« Geburtstagskuchen, Kerzen, Partyspiele für die Kinder … Unwillkürlich malte sie sich die Bilder aus.
»Wir legen einfach einen Tag fest«, erklärte Laura. Sie starrte aus dem Fenster.
Einen Tag festlegen? Vielleicht litt sie unter einer Wochenbettdepression. Verständlich wäre das; nach allem, was passiert war. »Dann hast du ihre Geburt noch nicht angemeldet?«, fragte Vivien vorsichtig. Dieses Mädchen schien wirklich völlig ahnungslos zu sein.
»Wir glauben nicht an so etwas«, erklärte Laura.
»Ach?«
»Menschen Etiketten aufzudrücken, sich kontrollieren zu lassen, unter dem Diktat der Gesellschaft zu leben«, sagte Laura. »Warum sollte sie ›angemeldet‹ werden? Sie ist nur ein Baby. Ein freier Geist, verstehen Sie?«
»Hmmm.« Vivien war sich sicher, dass es jede Menge Gründe gab, Geburten zu registrieren, beschloss aber, dass jetzt nicht die richtige Zeit war, darüber zu diskutieren. Und Tom würde – ganz zu Recht – anmerken, dass es sie nichts anging.
»Bleibst du denn hier in Dorset, Laura?«, erkundigte sie sich stattdessen. »Oder gehst du wieder auf Reisen?« Mit dem Baby, ergänzte sie im Stillen. Freier Geist oder nicht: War das die richtige Art, ein Kind großzuziehen? Ohne ihm Grenzen zu setzen? Ohne Strukturen? Ohne dass das Kind auch nur wusste, wann es geboren war? Eine Weile würde Laura natürlich bleiben müssen. Vivien nahm an, dass sie als nächste Verwandte den Verkauf von Pearls Haus und ihres ganzen Besitzes bewerkstelligen musste. Das würde schwerfür sie werden, ein Albtraum. Sie würde jede Hilfe brauchen, die sie bekommen
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