Julias Geheimnis
trug dazu bei, seine Argumente glaubwürdig erscheinen zu lassen, das war ihr durchaus klar. Viele Frauen waren dem Doktor und der Klinik dankbar. Was Dr. López tat, wurde als beinahe heldenhafte Rettung betrachtet.
»Dann ist Ihnen nicht zu helfen«, sagte Dr. López in verächtlichem Ton zu ihr. »Und Ihnen wird auch keine Hilfezuteilwerden.« Er wandte sich ab und zitierte dabei wie so oft aus der Bibel. »Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens.«
Tränen glänzten in Ramiras Augen. Doch sie presste den Mund fest zusammen. Eine weitere Wehe kam. Schwester Julia stützte ihren Rücken und versuchte, die Kissen so zu legen, dass sie es bequemer hatte. Sie war kaum in der Lage, sich zu behaupten, und doch hatte sie es getan.
»Sie tun mir leid«, erklärte Dr. López. »Sie tun mir leid, weil Sie nicht fähig sind, Einsicht zu zeigen.«
Die Frau keuchte vor Schmerz. Schwester Julia strich ihr das dunkle Haar aus der schweißnassen Stirn und legte ihr erneut den feuchten Lappen auf.
»Ich komme wieder.« Mit großen Schritten strebte der Arzt davon und verschwand durch die Tür.
Die Hebamme, die sich um eine andere Frau gekümmert hatte, eilte herbei, um ihn abzulösen.
Schwester Julia drückte Ramiras Hand, und die Frau sah zu ihr auf. Kurz war es, als verstünden sie sich ohne Worte, doch dann sah Schwester Julia an Ramiras Gesicht, dass der Schmerz zurückgekehrt war, und der Moment war vorüber.
Schwester Julia blickte sich im Krankensaal um, dessen Wände schmutzig und braun waren. Sie betrachtete die angeschlagenen Kacheln, die harten und unbequemen Betten, die Wagen voller kalter Metallinstrumente und roch den scharfen Gestank nach Bleiche und Wundbenzin. Ihr taten all diese Frauen leid.
Dr. López’ Sprechzimmer lag im Erdgeschoss, aber weit entfernt von der Eingangstür, durch die Frauen in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft traten, um dann ihren Platz im Wartezimmer einzunehmen, das sich gleich links befand. Es war ein dunkler, trostloser Raum mit harten Holzstühlen, in dem eine Stimmung herrschte, die Schwester Julia nur als bedrückend beschreiben konnte. Dabei sollte eine Geburt doch Hoffnung, Neubeginn und Glück symbolisieren – in einer idealen Welt jedenfalls.
Nach dem Mittagessen hatte Dr. López Sprechstunde, bevor er dann zur letzten Visite des Tages auf die Entbindungsstation oder in den Kreißsaal zurückkehrte. Manchmal wohnte er auch Geburten bei und untersuchte die Neugeborenen. In der Klinik arbeiteten erfahrene Schwestern und zwei Hebammen in unterschiedlichen Schichten, doch Dr. López fühlte sich für alles zuständig, und zwar mehr noch, als er es im Hospital schon tat. Dies hier war sein Reich.
Es gehörte zu Schwester Julias Pflichten, die Frauen zu holen, wenn sie an der Reihe waren, und sie den langen Gang entlangzuführen, der zu Dr. López’ Allerheiligstem führte. Dies konnte ein einschüchternder Weg sein, und Schwester Julia hoffte, dass ihre Begleitung den Frauen vielleicht etwas von ihrer Angst nahm.
Die letzte Patientin an diesem Nachmittag war Agnes Jurado, eine junge Frau von ungefähr zwanzig Jahren, deren Schwangerschaft noch nicht zu sehen war. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht und große, dunkle Augen, und ihr dickes, glänzendes schwarzes Haar hing ihr offen über den schlanken Rücken. Sie war sehr hübsch, wirkte aber auch furchtbar traurig. Schwester Julia fühlte sich an ihre Schwester Paloma erinnert. Die liebe Paloma … Ihr fröhliches Geplauder fehlteihr. Wie sehr sich doch ihr altes und ihr neues Leben unterschieden.
Dr. López saß hinter seinem großen hölzernen Schreibtisch. Daneben stand ein Bücherschrank mit Glasfront, der vollgestopft mit medizinischen Fachzeitschriften und religiösen Traktaten war.
»Bitte setzen Sie sich.« Er deutete auf den Stuhl gegenüber seinem eigenen ledernen Drehsessel, in dem er etwas höher saß.
Mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf nahm Agnes Platz.
Dr. López nickte. Er mochte es, wenn die Frauen reuig und beschämt waren. Schwester Julia wartete. Manchmal verlangte der Arzt, dass sie blieb, dann wieder schickte er sie hinaus.
Er notierte Agnes Jurados Personalien, machte sich ausführliche Notizen und murmelte ab und zu etwas vor sich hin.
»Wer ist der Vater Ihres Kindes?«, wollte er
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