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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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natürlich auch, wie Schwester Julia zugeben musste. Und er erwartete von ihnen, dass sie bereuten.
    »Also, Ramira, ich denke, es sieht ganz gut aus«, erklärte Dr. López, nachdem er sie untersucht hatte. Er neigte dazu, vertraulich mit seinen Patientinnen umzugehen, und nannte viele beim Vornamen. Er warf einen Blick auf den Bericht, den die Nachtschwester ihm gegeben hatte.
    Ramira stand kurz vor der Geburt. Ihr Gesicht war blass, aber sie wirkte ziemlich gesund. Gott wusste, dass so etwas in diesen Zeiten ziemlich selten vorkam. Der Arzt hatte mit einem trompetenförmigen Gerät, das er Pinard-Rohr nannte, die Herztöne des Fötus abgehört und es dann zurück auf den Wagen neben sich gelegt. Nun trat er wieder an ihr Bett und betrachtete sie mit seinem seltsam durchdringenden, aber leidenschaftslosen Blick. »Haben Sie Ihre Gebete gesprochen und um Vergebung für Ihre Sünden gefleht?«
    Schwester Julia trat nach vorn und legte der jungen Frau die Hand auf die Stirn. Dr. López hatte schon bei seiner ersten Konsultation und noch einmal gestern, als sie aufgenommen worden war, ausführlich mit Ramira über dieses Thema gesprochen. Er war nicht zufrieden, weil sie sich noch weigerte, ihr ungeborenes Kind zur Adoption freizugeben. Schwester Julia konnte seine Frustration und Sorge verstehen. Aber dies war gewiss nicht die richtige Zeit, um ihr weiter zuzusetzen? Sie hatte Schmerzen und würde gleich gebären.
    »Ja, Doktor«, flüsterte Ramira.
    Er nickte. »Und haben Sie noch einmal über das Wohlergehen Ihres Kindes nachgedacht?«
    »Ja.« Ihr Gesicht war aschgrau.
    »Und?« Dr. López rückte weiter an das Kopfende des Betts heran und beugte sich vor, sodass sich sein Gesicht dem ihren näherte. »Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«
    Mit vor Schmerz bebendem Körper wich sie vor ihm zurück. »Vielleicht ist es für sein Wohlergehen das Beste, wenn es bei seiner Mutter bleibt«, keuchte sie.
    Schwester Julia hielt den Atem an. Das war nicht das, war der Arzt hören wollte. Er wünschte sich, dass Frauen wie Ramira ihr Schicksal in einem größeren Rahmen betrachteten. In ihrem Land gab es noch so viel Armut und Elend. Und doch gab es Menschen, welche die Mittel hatten, einem ungewollten Kind ein gutes Zuhause zu geben. Dr. López dachte, wie er oft betonte, nur an die Kinder.
    Der Arzt stieß einen gepressten Laut aus. Er hob die Hand, und einen schrecklichen Moment lang hatte Schwester Julia den Eindruck, er wolle Ramira schlagen. Aber nein. Natürlich würde er so etwas nicht tun. »Was für eine Zukunft können Sie ihm denn bieten?«, knurrte er stattdessen. Während er sprach, entfernte sich der Arzt von der Frau in dem Bett und schien wieder zu wachsen und hoch über ihr aufzuragen. Eine Frau wie Sie , hätte er hinzusetzen können, er sprach es aber nicht aus.
    Die Wehe ließ nach, und Ramira atmete leichter. »Ich bin seine Mutter«, erklärte sie.
    »Sie denken nur an sich selbst«, stellte der Arzt kalt fest. »Eine Frau, die in den Wehen liegt und ihr Kind gebiert, und sie denkt nur an sich selbst.« Seine Stimme wurde immer lauter.
    Schwester Julia unterdrückte ein Seufzen und spülte den Lappen in der Wasserschale aus, die neben ihr stand. Vielleicht war Ramira ja egoistisch. Aber konnte sie es ihr verübeln, dass sie das Kind behalten wollte, das in ihrem eigenen Leib herangewachsen war, das Kind, das vielleicht eine Erinnerung an eine verlorene Liebe war? Denn Schwester Julia erinnerte sich noch an einige Patientinnen im Hospital, die verheiratet gewesen waren. Es waren Frauen, die überhaupt keiner Sünde anheimgefallen waren. So viele Republikaner waren entweder aus Angst um ihr Leben aus der Stadt geflohen oder wegen ihrer politischen Überzeugungen eingesperrt oder hingerichtet worden. Sie wusste nicht, ob Ramira Baez zu diesen Frauen gehörte. Aber das ungeborene Kind war vielleicht alles, was sie noch hatte.
    »Ich habe das Recht, mein eigenes Kind zu behalten«, murmelte Ramira.
    Selten hatte Schwester Julia eine Frau erlebt, die stark genug war, sich Dr. López zu widersetzen. Am liebsten hätte sie Beifall geklatscht, aber natürlich wäre das falsch gewesen. Die meisten dieser Frauen waren verletzlich, und ihr Selbstvertrauen und ihr Wille würden bald von Dr. López’ kompromissloser Autorität zermalmt werden; von seinem unerschütterlichen Glauben, das Richtige zu tun. Wahrscheinlich fragten sie sich, was sie in ihrer Lage anderes tun konnten. Auch Schwester Julias Gegenwart

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