Julias Geheimnis
unvermittelt wissen.
Das Mädchen zuckte zusammen. Der Raum war nur schwach erleuchtet, doch die Schreibtischlampe war direkt auf die unglückliche Agnes gerichtet, die stotternd und stammelnd antwortete.
»Ich weiß es nicht, Doktor«, erklärte sie und errötete heftig.
»Sie wissen es nicht?« Seine Stimme dröhnte durch den Raum.
Schwester Julia sah, wie der Arzt sein schweres Holzkruzifix vom Schreibtisch nahm, und sie wusste, was als Nächstes kommen würde. Sie behielt recht. »Alle haben gesündigtund die Herrlichkeit Gottes verloren«, merkte er betrübt an. »Paulus’ Brief an die Römer. Wenn Sie bereuen, mein Kind, werden Sie die Gabe des Heiligen Geistes empfangen.«
Agnes sah mit weit aufgerissenen Augen und verängstigt zu ihm auf.
Seine Stimme wurde lauter, und er lief rot an. »Der Lohn der Sünde ist der Tod.« Noch ein Zitat. Er stieß mit dem Kruzifix nach Agnes.
Lautlos begann auch Schwester Julia zu beten.
»Ich bin vergewaltigt worden, Doktor.« Agnes hatte so leise gesprochen, dass Schwester Julia sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
Vergewaltigt. Schwester Julia hielt den Atem an. Das arme Mädchen. Sie wartete darauf, dass Dr. López ihr weitere Fragen stellte. Wann war das passiert? Wer war der Mann? Hatte sie den Vorfall gemeldet? Es gab so viele Fragen. Und so viel Grauen in der Stadt, von dem Schwester Julia bisher noch nichts geahnt hatte.
Doch er stellte keine dieser Fragen, sondern musterte das Mädchen stattdessen ernst. »Sie wollen, dass das Kind zur Adoption freigegeben wird«, sagte er. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, gegen die es keine Einwände gab.
Schwester Julia musste sich auf die Lippen beißen, sonst hätte sie nicht ruhig bleiben können.
Das Mädchen senkte den Kopf. »Ich habe keine andere Wahl, Doktor«, antwortete sie.
»So ist es.« Der Arzt klang beinahe erfreut.
Schwester Julia sah ein, dass es stimmte. Eine Adoption war eindeutig der beste Weg, sowohl für Agnes als auch für ihr ungeborenes Kind. Aber sie fand, dass die Entscheidungso übereilt getroffen worden war, so unüberlegt. Das Mädchen hatte so viel durchgemacht.
»Schwester Julia, begleiten Sie Agnes hinter den Wandschirm«, befahl Dr. López. »Ich nehme jetzt die Aufnahmeuntersuchung vor.«
»Ja, Doktor.« Behutsam führte Schwester Julia Agnes zu der schmalen Liege in der Ecke des Sprechzimmers, wo auch ein Wagen mit den Gummihandschuhen und Instrumenten des Arztes, einem Eimerchen für schmutzige Verbände und einer Waschschüssel stand. »Ziehen Sie sich bitte aus«, sagte sie, zog den Vorhang zu und versuchte, dem Mädchen mit den Augen zu bedeuten, dass sie mit ihm fühlte. Mehr konnte sie nicht tun, das stand ihr nicht zu. Aber sie empfand tiefes Mitleid mit der jungen Frau.
Während der Untersuchung wirkte Dr. López geradezu vergnügt. Versuchte er einfach, es Agnes angenehmer zu machen? Sie hoffte es. Er legte ihre Füße in die Halterungen, und kurz sah es aus, als beuge er sich bedrohlich über das arme Mädchen, das mit seinen weit aufgerissenen, verängstigten Augen und gespreizten Beinen dalag.
Als werde sie noch einmal vergewaltigt … Unwillkürlich ging Schwester Julia dieser Gedanke durch den Kopf. Das war natürlich Unsinn. Das Mädchen musste untersucht werden, und Dr. López fasste es nicht grob an. Trotzdem. Schwester Julia bezog daneben Stellung, falls sie gebraucht wurde. Und einmal mehr sprach sie ein lautloses Gebet.
»Sie sind ungefähr im fünften Monat«, erklärte Dr. López Agnes. »Das bestätigt das Datum, das sie genannt haben.«
Das Datum ihrer Vergewaltigung, dachte Schwester Julia. Wie sollte sich so ein hübsches und unschuldiges Mädchen von dem Trauma erholen, schwanger von einem Vergewaltiger zu werden? Und wieder dachte sie an Paloma. Ihr Gott herrschte wahrlich über eine grausame Welt.
Nachdem sich die junge Frau wieder angezogen hatte, führte Schwester Julia sie hinaus und gab ihr einen neuen Termin. Sie sprach stets nur so viel wie nötig, denn so lautete ihre Anweisung. Doch jetzt legte sie ihre Hand auf Agnes’ magere Schulter und sagte: »Bitte machen Sie sich keine Gedanken. Hier wird man sich gut um Sie kümmern.« Und sie gelobte sich, dafür zu sorgen.
»Danke, Schwester«, sagte Agnes.
Schwester Julia schloss die Tür hinter sich und trat wieder in das Sprechzimmer des Arztes.
»Gleich kommen noch zwei Besucher, Schwester Julia«, erklärte er, schob seine Papiere auf dem Schreibtisch zusammen
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