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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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und sah sie über die Brille mit den halbmondförmigen Gläsern an, die er seit Kurzem trug. Die Brille schmälerte allerdings nicht die Macht, die diese Augen ausstrahlten, ganz im Gegenteil. »Führen Sie sie bitte hinein, wenn sie da sind. Danach können Sie gehen.«
    Fünf Minuten später öffnete sie einem gut gekleideten Paar. Der Mann trug einen eleganten Anzug mit Krawatte und die Frau ein dunkelblaues Kostüm, eine weiße Bluse und viel Goldschmuck. Das gut geschnittene Haar reichte ihr bis knapp über die Schultern. Schwester Julia schätzte, dass sie um die vierzig waren. Solche Paare kamen häufig in die Klinik. Es waren Ehepaare mit Geld und einer gewissen gesellschaftlichen Stellung, die ein Kind adoptieren wollten.
    Dr. López begrüßte sie überschwänglich und entließ Schwester Julia mit einer Handbewegung. »Sie haben für heute Ihre Pflicht erfüllt«, erklärte er und schloss energisch die Sprechzimmertür hinter sich.
    Aber Schwester Julia blieb noch. Das sollte sie nicht, doch sie war neugierig. Dr. López hatte schon bei zahlreichen Gelegenheiten klargestellt, dass es sie nichts anging, was hinter der Tür seines Sprechzimmers passierte.
    »Gute und schlechte Nachrichten, meine Freunde«, hörte sie den Arzt sagen. »Welche möchten Sie zuerst hören, ha, ha?«
    »Die gute, Doktor«, antwortete die Frau. Sie klang jetzt weniger kühl und selbstbewusst. In ihrer Stimme schwang sogar eine gewisse Verzweiflung mit. »Bitte erzählen Sie uns zuerst die gute Nachricht.«
    Schwester Julia konnte sich vorstellen, wie sich der Arzt über seinen Schreibtisch hinweg zu seinen Besuchern hinüberbeugte. Er würde mit dem Füllfederhalter auf die Tischplatte klopfen und seine Papiere zu einem noch ordentlicheren Stapel zusammenschieben.
    »Bei mir war ein Mädchen«, erklärte er. »Ein gutes Mädchen. Und der Vater des Kindes, das sie bekommt   …« Er sprach leiser. »Es geht doch nichts über ordentliche nationalistische Wertvorstellungen«, sagte er. »Dieses Kind wird Sie nicht enttäuschen, das garantiere ich.«
    Schwester Julia eilte davon. Sie wollte nichts mehr hören. Eigentlich hatte sie noch einmal nachsehen wollen, wie weit Ramiras Entbindung fortgeschritten war, doch jetzt wollte sie nur noch weg von hier. Sie holte ihre Sachen und verließ die Klinik. Die Tür fiel mit einem dumpfen Aufschlag des Türklopfers aus Metall hinter ihr zu. Sie warf einen Blick darauf. Er stellte eine Hand mit einem Ehering am Finger dar, in der ein Ball lag. In Anbetracht der Ausrichtung der Klinik war das pure Ironie, dachte sie. Das Namensschild an der Tür war klein und unauffällig, als wolle es sich verstecken. Sieschlug den Weg über den Arco del Teatro ein und lief durch die vertrauten Straßen des Raval-Viertels, in dem die Klinik lag. Ein für die Jahreszeit ungewöhnlicher Nebel schien in der Luft zu hängen. Das, was sie mitangehört hatte, hatte sie gründlich verwirrt. Was hatte es zu bedeuten? Jedenfalls hatte das Ehepaar die Klinik in Zusammenhang mit einer Adoption aufgesucht. Das war nicht ungewöhnlich. Aber hatte der Arzt die Adoption bereits arrangiert? Hatte er das Paar irgendwie enttäuschen müssen? Und war es möglich, dass er von Agnes Jurados Baby gesprochen hatte? Konnte der Vater mit den ordentlichen nationalistischen Wertvorstellungen derselbe Mann sein wie der, der sie vergewaltigt hatte? Eine solche Äußerung erschien für einen Mann von Dr. López’ Rang unglaublich herzlos. Schwester Julia eilte zurück nach Santa Ana. Natürlich war dem Arzt das Wohlergehen der Kinder wichtig, aber sollte er nicht auch ein wenig Mitgefühl gegenüber den Müttern zeigen? Besonders gegenüber Mädchen wie Agnes, denen in den Nachwehen des Bürgerkriegs etwas so Abscheuliches widerfahren war.
    Schwester Julia blickte sich um. Ihr war, als könne sie noch das Leid spüren, das wie Moos an den Mauern der Stadt klebte. Auch die Menschen in den Straßen strahlten etwas Trauriges aus. Man sah es daran, wie sie gingen, wie sie rauchend in Ladeneingängen standen, die Welt an sich vorüberziehen ließen und sich vielleicht fragten, was eigentlich der Sinn des Ganzen war. Sie sah die dunklen Gestalten von Bettlern und roch den Gestank, der über allen Großstadtstraßen lag; verfaultes Gemüse, abgestandener Urin, der Müll der Stadt, der sich mit Abgasen und Tabakrauch mischte. Und Tod, dachte sie. Das Leid verbarg sich in denSchatten der Stadt. Es war Winter, und bald würde es dunkel werden. Die

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