Julias Geheimnis
Sie selbst hatte die beiden heute Morgen in die Klinik geführt. Dort hatten sie überglücklich ihren dick eingewickelten kleinen Jungen abgeholt und waren dann ohne weitere Umstände wieder verschwunden.
Natürlich war der Name der leiblichen Mutter des Kleinen nicht aufgeführt. Sogar Schwester Julia wusste ihn nicht, da die Mutter anscheinend schon entlassen worden war, bevor Schwester Julia heute Morgen gekommen war. Und er stand nicht auf der Geburtsurkunde, weil General Franco dafür gesorgt hatte, dass nur die Namen der Adoptiveltern dokumentiert wurden.
»Es ist ein neues Gesetz, ein gutes Gesetz«, hatte Dr. López ihr erklärt, als sie deswegen Zweifel angemeldet hatte. »Es gewährleistet, dass unsere Jugend die richtige ideologische Erziehung erhält. Unsere Kinder werden erzogen, Gott zu lieben. Sie wachsen in der rechten Art auf, in der einzigen, in der ein Spanier erzogen werden sollte, in Seinem Namen.«
Schwester Julia konnte das nachvollziehen. Aber das neue Gesetz bedeutete auch, dass alle adoptierten Kinder niemals etwas über ihre wahre Abstammung erfahren würden. Dass es keine Aufzeichnungen über ihre leiblichen Eltern gab, ja nicht einmal darüber, dass sie überhaupt adoptiert worden waren. Gegen die Logik des Arztes kam sie nicht an. Aber wurde damit nicht ein anderes Grundrecht missachtet, das Recht nämlich, seine eigenen Ursprünge zu kennen? Und legte eine solche Täuschung in ihrem geschundenen Land nicht das Fundament für mehr und immer mehr Betrug?
Schwester Julia prägte sich die Namen des Kindes und der Adoptiveltern ein. Sie sah im Verzeichnis der Entlassungen nach und fand den Namen der Mutter, die heute Morgen gegangen war. Alle Namen lernte sie auswendig.
An diesem Nachmittag kaufte Schwester Julia auf dem Rückweg nach Santa Ana in einem Schreibwarenladen auf den Ramblas eine einfache Kladde. Sie nahm sie mit ins Kloster, ging in ihre einfache, weiß getünchte Zelle und schrieb das Datum und alle Namen hinein. Und dann fügte sie noch einen Namen hinzu: Leonora Sánchez, den Namen der Frau, deren Sohn gestorben war.
Sie hätte nicht einmal erklären können, warum sie das getan hatte. Sie hielt ihre Aufzeichnungen geheim und verwahrte das Buch in einer verschlossenen Schublade. Aber sie beschloss, dass sie es weiter tun würde. Sie würde in der Klinik bleiben und versuchen, diesen Frauen zu helfen. Und sie würde alle Namen aufschreiben.
18. Kapitel
DORSET, APRIL 1978
A uf dem Heimweg fuhr Vivien ganz vorsichtig. Sie sah in regelmäßigen Abständen in den Spiegel, um sich davon zu überzeugen, dass das in seine Decke gewickelte und in seinem Korb liegende Baby noch sicher auf dem Rücksitz stand. Was hätte sie sonst tun können? Laura transportierte sie offensichtlich auch so. Anscheinend hatte das arme Würmchen nicht einmal ein Bettchen zum Schlafen. Vivien seufzte und umfasste das Steuer ihres Morris 1000 ein wenig fester. Nur eine Sekunde lang gestattete sie sich den Gedanken, ob Laura überhaupt wusste, was für ein Glück sie hatte. Wahrscheinlich nicht.
Tom war zu Hause. Als sie in der Einfahrt zu ihrer Doppelhaushälfte parkte, erblickte sie sein Fahrrad, das an der Seitenwand lehnte. Gott allein wusste, was er dazu sagen würde. Aber sie passte ja nur auf das Baby auf, oder? Das war nichts Ungewöhnliches, das war ganz normale Nachbarschaftshilfe. Und Laura musste ja nicht erfahren, was Tom und sie durchgemacht hatten und wie verzweifelt sich Vivien nach einem Kind sehnte.
Ruby rührte sich nicht, als Vivien mit ihr den Gartenweg hinaufging. Mit dem kleinen Finger strich sie über die weiche Wange und spürte als Echo ein warmes Gefühl in ihrem Inneren.
Nein, Vivien!
Das Haus nebenan wirkte so traurig wie immer. Seine Fenster und Türen waren seit Jahren nicht gestrichen worden. Die cremeweiße Farbe war gesprungen und blätterte ab, sodass das nackte Holz darunter zu sehen war. Was Pearl wohl zu ihrer Enkelin gesagt hätte? Vivien lächelte. Sie wäre bestimmt entzückt gewesen.
Tom war in der Küche und aß ein Sandwich – mit Käse und Tomaten, wie Vivien an den Resten auf dem Tisch sah. Behutsam hob sie Ruby aus dem Korb.
»Hallo, Schatz«, sagte er, blickte auf, sah wieder in seine Zeitung und hob dann wieder den Kopf, als ihm klar wurde, was sie da auf dem Arm hatte. »Was ist das?«, fragte er.
»Ein Baby.«
»Das sehe ich.« Er starrte sie an. »Wessen Baby? Wo hast du es her?«
Was dachte er wohl? Dass sie es irgendwo entführt
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