Julias Geheimnis
López sie an. »Erstes Buch Mose.« Er trat an das Bett und sah auf die unglückliche Leonora hinunter. » Denn du hast von der verbotenen Frucht gegessen. « Abrupt wandte er sich von ihr ab.
Lieber Gott. Schwester Julia war sich bewusst, dass der Arzt daran glaubte, dass Frauen wegen Evas Sünde leiden mussten, aber war es wirklich Gottes Wille, dass Frauen solche Schmerzen erlitten? Der Arzt – und andere – würden vielleicht fragen, warum Frauen wie Leonora ihre Tugend so leichtfertig weggeworfen hatten. Hatten Sie sich keine Gedanken darüber gemacht, was aus ihnen werden könnte? In welcher Lage sie sich wiederfinden würden? Schwester Julia dachte an Paloma. Ihr konnte das nicht mehr passieren, denn sie würde bald heiraten. Doch Schwester Julia konnte sich vorstellen, dass manche Männer ein armes, törichtes Mädchen, das sich gern schmeicheln ließ, ausnutzten. Es gab viele skrupellose Männer, die Frauen wenig Respekt erwiesen, Männer, die Charme und vielleicht sogar Gewalt einsetzten, um zu bekommen, was sie wollten.
Leonora klammerte sich an der Bettkante fest. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Pupillen erweitert. »Ich bin eine Frau«, keuchte sie. »Und ich bin am Leben.«
»Das sehen wir«, sagte Dr. López.
Erneut schrie Leonora auf. Sie hatten sie immer noch nicht aus dem Raum geschoben, und die anderen Frauen wurden langsam unruhig. Doch Dr. López blieb so kühl wie ein Gebirgsbach und entfernte sich, um nach der anderen Gebärenden zu sehen.
Überließ er Schwester Julia nun die Verantwortung? Sie versuchte, nicht in Panik zu geraten. »Lachgas, Doktor?«, fragte sie. Das wendete er häufig in diesem späten Stadium an – wenn er wollte.
»Nicht nötig.« Er drehte sich um und tippte sich an die Stirn. »Der Arzt weiß es am besten, Schwester Julia«, erklärte er beinahe flapsig. Leonoras Schreie ignorierte er vollkommen. »Sie wird Mutter, da kommt sie schon zurecht.«
Eine unverheiratete Mutter. Eine Mutter, die ihr Kind behalten wollte. Sie schoben das Bett in den Kreißsaal. Schwester Julia und versuchte, es Leonora so bequem wie möglich zu machen. Waren sie gefallene Mädchen, wie Dr. López sagte? Oder einfach lebenslustige Frauen? Sie holte eine Schale mit etwas Wasser und tauchte einen Lappen hinein. Es stimmte natürlich, dass alleinstehende Frauen, die ungewollt schwanger waren, ein gesellschaftliches Problem darstellten. Die Klinik und die Adoptionen, die Dr. López förderte und vermittelte, waren wenigstens eine Lösung – für die Mutter wie für das Kind. Das konnte niemand abstreiten. Dennoch zweifelte Schwester Julia an Dr. López’ Methoden …
Es war eine schwierige Geburt. Schwester Julia hatte noch niemals eine Frau so laut schreien gehört. Leonora hatte Schmerzen, und sie hatte auch etwas Wildes, Ungebärdiges. Doch Schwester Julia stand ihr nach Kräften bei, und Dr. López entband das Kind. Es gab keine Komplikationen.
Dr. López reichte das Kind an Schwester Julia weiter, während er die Nachgeburt entband und sich davon überzeugte, dass es der Mutter gut ging.
»Ein gesunder Junge«, teilte Schwester Julia Leonora mit und begann, das Kind zu waschen. Seine Wangen waren schon rosig, und auf dem kleinen Kopf thronte ein dunkler Haarschopf. Er war ein reizendes Baby.
»In der Tat.« Der Arzt sah von seiner Untersuchung auf. »Aber ich denke, das Urteil darüber sollten Sie mir überlassen, Schwester.«
»Natürlich, Doktor.« Sie neigte den Kopf.
Als Dr. López fertig war, nickte er Schwester Julia zu. »Sobald Sie so weit sind, Schwester«, sagte er und verließ den Kreißsaal.
Das Verfahren war festgelegt. Nachdem eine Frau entbunden hatte, musste Schwester Julia dem Arzt das Baby so schnell wie möglich bringen, damit er es richtig untersuchte.
»Geben Sie ihn mir«, bettelte Leonora. Sie war jetzt ganz gelassen und ruhig und hatte diesen friedlichen Ausdruck, den Frauen nach der Geburt oftmals hatten. Als Schwester Julia das sah, musste sie daran denken, dass ihr diese Erfahrung verwehrt bleiben würde. Sie würde nie erleben, was Leonora gerade erlebt hatte; diese Leidenschaft und diesen Schmerz, diesen Kontrollverlust und dieses wunderbare und gewaltige Gefühl, ein Kind zu gebären.
Schwester Julia zögerte. Die meisten Frauen wollten ihre Neugeborenen an die Brust drücken; sie wollten sie bei sich haben und auf sie aufpassen. Doch Schwester Julia hatte Anweisung, das nicht zu erlauben. »Nur kurz«, sagte sie. »Dann
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