Julias Geheimnis
hatte? Um Himmels willen … Vivien setzte sich. Ruby lag in ihrer Armbeuge. Sie sollte nicht immer in dem Korb liegen; sie brauchte menschliche Wärme und Zuneigung. »Das Baby gehört Laura«, erklärte sie. »Sie hat mich gebeten, ein Weilchen auf die Kleine aufzupassen.«
Tom raschelte auf eine Art, die sie kannte, mit seiner Zeitung. »Und du hast das für eine gute Idee gehalten, oder?«, fragte er in barschem Ton.
Vivien sah auf das Baby hinunter. »Es wäre mir schwergefallen, es abzulehnen«, sagte sie. »Allein wegen Pearl.«
Tom stand auf. »Ich meine nur, dass du auf dich aufpassen sollst, Liebes«, sagte er.
»Natürlich.« Vivien lächelte.
»Dann setze ich mal den Teekessel auf.« Im Vorbeigehen bückte sich Tom, um die Kleine anzuschauen.
Vivien sah, wie sein Blick weicher wurde. Einen Moment lang sah sie, wie er als Vater sein könnte, wie sie beide als Eltern sein könnten. Etwas in ihrer Brust zog sich zusammen. »Ich lege sie hin und mache den Tee, sobald das Wasser kocht«, sagte sie. Aber der Glanz war schon wieder aus Toms Augen verschwunden. Er hatte schon wieder dichtgemacht.
»Meinst du, es fällt ihr schwer, mit dem Baby zurechtzukommen?«, fragte er.
»Ich glaube schon.« Vivien fiel ein, was Laura über Rubys nächtliches Geschrei gesagt hatte. Und dabei schien Ruby so ein braves Baby zu sein. Sie wollte einfach regelmäßig gefüttert und gewickelt werden, das war alles. Und sie wollte nicht ewig in einem Campingbus leben.
Das Wasser kochte, Tom warf ihr einen Blick zu, und Vivien legte das Baby hin – nicht wieder in den Korb, sondern auf den weichen, tiefen alten Sessel, der in der Ecke stand. Sie steckte die Decke fest, sicherte Rubys Lage zusätzlich mit einer Nackenrolle und beobachtete sie einen Moment lang. Es tat ein wenig weh, sie aus der Hand zu geben. Sie war so warm, und die Stelle, an der sie an Viviens Körper gelegen hatte, fühlte sich jetzt leer und kalt an. Vivien strich mit der Hand über die leere Stelle, als könne sie den flüchtigen Eindruck, den das Kind dort hinterlassen hatte, wegwischen. Das Baby lächelte im Schlaf leise. Die Kleine träumte vermutlich von Regenbögen.
Als Laura sie abholen kam, war es fast Mitternacht. Bis dahin war Vivien panisch. Sie war nicht auf ein Baby eingerichtet. Laura hatte ihr weder Rubys Nachtsachen noch weitere Windeln oder sonst etwas dagelassen. Außerdem hatte sie den letzten Rest Milchpulver aufgebraucht. Was sollte siemachen, wenn die Kleine das nächste Mal aufwachte? Was dachte Laura sich dabei, sie so lange hierzulassen?
Tom war schon ins Bett gegangen. »Ich wusste, dass nichts Gutes dabei herauskommen würde«, hatte er seufzend gemeint. Aber Vivien blieb auf, wartete, beobachtete Ruby und machte sich Sorgen. Was, wenn Laura etwas zugestoßen war?
Als es dann an der Tür klopfte, fuhr Vivien aus einem Dämmerschlaf hoch. Sie saß in dem Schaukelstuhl in der Küche, und Ruby lag immer noch in dem tiefen Sessel.
Sie stand auf und ließ Laura herein. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du erst so spät kommen würdest«, sagte sie.
Laura erwiderte ihren Blick verschwommen und abwesend. »Hat sie Ärger gemacht?«, fragte sie.
»Nein, sie war ganz brav«, gab Vivien zurück. Sie ging zum Sessel, nahm Ruby behutsam hoch und legte sie in den Korb. In ihr regte sich ein leises Gefühl von Verlassenheit. »Mach’s gut, Ruby«, flüsterte sie.
Laura beobachtete sie. »Sie haben sie gern.«
»Natürlich.« Vivien reichte ihr den Korb. »Wer könnte sie nicht mögen?«
»Viele Leute.« Laura sah auf ihre Tochter hinunter. Ihre Miene zeigte eine Mischung aus Liebe und Unmut.
Vivien rief sich die Tatsachen ins Gedächtnis: den Tod von Lauras Mutter, das Leben, das sie führte, den Umstand, dass Rubys Vater Laura verlassen hatte, und dass Laura selbst immer noch fast ein Kind war.
»Sie ist reizend«, sagte Vivien. Sei dankbar, dachte sie. Du solltest wirklich dankbar sein. Denn du hast keine Ahnung.
»Nicht, wenn sie die ganze Nacht schreit, dann nicht.« Laura klang so unbeteiligt. Und Vivien ärgerte auch diese beiläufige Art, wie sie sich umdrehte, die Tür öffnete und dabei den Korb schwang, als wäre darin nichts weiter als die Einkäufe für die Woche. Am liebsten hätte Vivien sie auf der Stelle festgehalten.
»Ich kann wieder auf sie aufpassen. Wann immer du willst«, sagte Vivien, als Laura nach draußen trat. Sie ließ es zwangloser klingen, als sie sich fühlte.
»Echt?« Lauras Miene hellte
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