Julias Geheimnis
den Gedanken schon jetzt kaum ertragen.
Ein paar Wochen später wachte Vivien mitten in der Nacht auf und hörte, wie jemand an die Hintertür hämmerte. »Oh mein Gott!« Sie setzte sich auf. Der Radau war laut genug, um Tote aufzuwecken.
Aber nicht Tom. »Tom.« Behutsam schüttelte sie seine Schulter und versuchte, ihn zu wecken. Aber er hatte so schwer gearbeitet, dass er nun schlief wie ein Stein.
Vivien sah auf die Uhr. Es war erst kurz nach Mitternacht. Draußen schüttete es in Strömen, und es stürmte. Das musste ein Sommergewitter sein. Hatte sie sich nur eingebildet, dass es an der Tür klopfte?
Nein. Da war es wieder. Wer in aller Welt …? Tom schnarchte immer noch wie ein Bär. Also stand Vivien auf und schnappte sich ihren Morgenmantel. Sie spähte aus dem Fenster in den Regen und in die Dunkelheit, um zu sehen, wer es war. Aber sie konnte rein gar nichts erkennen. Sie hörte nur das Trommeln des Regens auf dem Schuppen, das Rauschen der Sturzbäche, die vom Dach herunterliefen, und das Heulen des Windes. Dies war doch kein Horrorfilm, oder?
Dann erhellte ein Blitz den Himmel, und sie sah ihn draußen stehen, den VW -Campingbus.
Ruby. Ach, du lieber Gott . Im Nachthemd rannte sie nach unten. Schreckliche Szenen zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Sie ignorierte sie und stürzte in die Küche, wo sie das Licht einschaltete. Sie schloss die Tür auf und öffnete sie. Ihr Atem ging schnell. Ruby …
Laura stand da wie ein Geist. Sie trug ein langes, indigoblaues Kleid, das durchnässt war und an ihrem schmalen Körper klebte. Darüber hatte sie ein schwarzes Häkeltuch geworfen, das ungefähr so viel Schutz bot wie ein Kopftuchbei Steinschlag. Ihr langes Haar hing in Strähnen herunter, und Regentropfen liefen über ihr Gesicht wie Tränen. »Vivien«, sagte sie. Sie stand einfach dort im Regen, und sie klang verängstigt.
»Was ist, Laura? Was ist passiert?« Es donnerte. »Ist etwas mit Ruby?« Aber Vivien hatte schon gesehen, dass Laura den Korb bei sich hatte. Dieses Mal hielt sie ihn in den Armen und trug ihn nicht in der Hand wie zuvor. Außerdem hatte sie sich noch etwas unter den Arm geklemmt, das wie eine Schuhschachtel aussah.
Vivien zog sie aus dem Regen in die Küche und half ihr dabei, den Korb zu tragen. Furcht durchfuhr sie, und sie warf einen Blick in den Korb. »Geht es ihr gut?« Ihre Stimme klang sogar für ihre eigenen Ohren barsch.
Laura blieb kurz hinter der Tür stehen. Sie reichte Vivien den Korb. »Nehmen Sie sie«, sagte sie. »Hier. Nehmen Sie sie einfach.«
Automatisch nahm Vivien den Korb. Wieder sah sie hinein, und der Anblick des schlafenden Babygesichts beruhigte sie, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, wie Ruby bei diesem Höllenlärm schlafen konnte. »Was ist passiert?«, fragte sie noch einmal. »Ist etwas mit Julio? Ist …«
Aber Laura wich schon zurück und taumelte zur Tür. Jetzt weinte sie. »Passen Sie an meiner Stelle auf sie auf«, rief sie.
»Aber wie lange …?«
Doch sie war schon fort. Sie rannte durch den strömenden Regen, lief den Weg, der am Haus vorbeiführte, entlang und platschte durch die Pfützen. Dann zog sie die Beifahrertür auf und sprang in den Bus.
»Laura!« Vivien sah ihr verblüfft nach. »Laura?«
Kaum dass sie im Bus saß, jaulte der Motor auf. Im Lichteines weiteren Blitzes, der die Nacht erhellte, fuhr der psychedelische VW -Campingbus davon und war verschwunden. Einfach so.
Hmmm. Vivien warf einen Blick auf Ruby. Ihr schien es gut zu gehen. Sie schlief immer noch tief und hatte von dem ganzen Drama glücklicherweise nichts mitbekommen. Vivien verriegelte die Tür wieder und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Den Korb trug sie vorsichtig vor sich her. Im Schlafzimmer zog sie die große Schublade aus der Kommode und nahm alle Kleidungsstücke heraus. Dann holte sie ein einzelnes Laken aus dem Wäscheschrank und richtete methodisch ein kleines Bett in der Schublade her. Währenddessen dachte sie die ganze Zeit darüber nach, was eigentlich passiert war. Was meinte Laura damit, dass sie an ihrer Stelle auf sie aufpassen solle? Und wann hatte sie vor zurückzukommen?
Sie lag wach und lauschte dem Atem des Babys – stundenlang, wie es ihr vorkam. Und kaum war sie eingeschlafen, erwachte sie von Rubys Wimmern – jedenfalls kam es ihr so vor. Sie stand auf, hob sie aus der Schublade und ging mit ihr nach unten, um sie zu füttern. Sie wollte Tom nicht wecken, noch nicht. Dazu war später
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