Julias Geheimnis
muss ich ihn wegbringen, damit der Arzt ihn untersuchen kann.«
»Pffft«, gab Leonora zurück. »Man sieht doch, dass er gesund ist wie ein Fohlen. Wozu braucht er eine Untersuchung?« Sie drückte ihn an sich. »Mein Liebling«, flüsterte sie und küsste ihr Baby sanft auf die Stirn.
Diese einfache Zuneigungsbezeugung rührte Schwester Julia. Aber … »So ist es leider Vorschrift«, erklärte sie und nahm das Kind wieder. »Und was wäre«, hatte Dr. López einmal gefragt, »wenn eines dieser Kinder ein gesundheitliches Problem hätte? Wie würde es aussehen, wenn eins der Babysstirbt, weil ich es nicht untersucht habe? Was würde das für den Ruf meiner Klinik bedeuten?«
Falls er seine Reputation verlöre – daran musste Schwester Julia niemand erinnern –, dann konnte er diesen Kindern nicht mehr helfen. Dann konnte er nicht länger tun, was er immer als »Gottes Werk« bezeichnete.
»Ich bringe ihn bald zurück«, versprach Schwester Julia.
Doch es kam anders. Sie brachte das Baby zu Dr. López, der sie anschließend in den Krankensaal schickte, um dort auszuhelfen. Einige Stunden später kehrte sie in den Kreißsaal zurück. Dr. López stand an der Tür.
»Leider, Schwester«, sagte er. Er hielt sein Kruzifix in der Hand.
Leider? Schwester Julia spürte ein flaues Gefühl in der Magengrube. Leider? Sie folgte ihm nach drinnen.
Flatternd öffneten sich Leonoras Augen. Sie schaute sie beide an, und Schwester Julia sah dieselbe Furcht auf ihrem Gesicht, die sie selbst empfand. Sie legte eine Hand auf das Bettgestell, um sich zu stützen. Es konnte nicht sein, oder?
»Wo ist mein Baby?« Leonora blickte sie an, und Panik trat in ihre Augen. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Es tut mir sehr leid.« Tiefer Kummer lag in der Stimme des Arztes. »Aber Gott hat Ihr Kind zu sich genommen.«
Gott hatte es geholt? Aber das Kind hatte so gesund ausgesehen. Schwester Julia bekreuzigte sich.
»Nein!« Leonoras Schrei war herzzerreißend. Es war ein Schmerzensschrei aus tiefster Seele.
Schwester Julia eilte an ihre Seite.
Dr. López nickte. »Ich konnte nichts tun«, erklärte er. »Aber seien Sie ganz ruhig, denn Ihr Sohn ist von dieser Erde in den Himmel eingegangen.«
»Das kann nicht sein! Das ist nicht wahr!« Leonora versuchte, den Arzt am Arm zu fassen. »Geben Sie ihn mir! Geben Sie mir meinen Jungen!«
»Still, Leonora.« Schwester Julia wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ich sage Ihnen doch, er ist bei Gott.« Der Arzt streckte das Kruzifix aus. »Freuen Sie sich für ihn, denn er ist gerettet.«
Leonora brach in unkontrolliertes Schluchzen aus. Schwester Julia legte einen Arm um sie und versuchte, ihr Trostworte zu sagen. Aber in Wahrheit blieben die Worte ihr im Hals stecken. Leonora war untröstlich.
Dr. López wollte den Raum verlassen, als Leonora ihn anschrie. »Ich will ihn sehen. Lassen Sie mich mein Kind sehen!«
Natürlich musste sie das Kind sehen. Schwester Julia ging zur Tür, um den Jungen zu holen, denn sicherlich befand sich das Kind noch unten im Untersuchungsraum. Doch da hörte sie die Antwort des Arztes.
»Ich kann Ihnen nicht erlauben, Ihr Kind zu sehen«, erklärte er. »Ihr Zustand lässt das nicht zu. Es ist nicht gesund. Es wäre nicht gut für Sie.«
Schwester Julia blieb verunsichert stehen. Das war natürlich richtig. Sie hatte nicht daran gedacht, aber sie musste zugeben, dass Hysterie niemandem nützen würde. Man musste auch an die anderen Frauen denken, und außerdem würde die arme Frau durch ein solches Trauma womöglich den Verstand verlieren.
»Ich muss ihn sehen!«, beharrte Leonora. Aber sie klang nun schon weniger energisch. Der Kummer hatte sie überwältigt. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend; sie war geschlagen.
Kurz dachte Schwester Julia an die Miene ihrer Mutter, als sie sie an diesem ersten Tag im Kloster Santa Ana zurückgelassen hatte. Auch sie war geschlagen gewesen.
»Was war los mit ihm?«, flüsterte Leonora. »Wie ist er gestorben?«
»Eine Infektion am Herzen«, antwortete Dr. López sofort. »Es kam ganz plötzlich. Das Herz hat versagt. Niemand hätte das voraussehen können.«
Niemand hätte das voraussehen können . Leben und Tod. So etwas kam vor. Schwester Julia hatte das schon oft genug erlebt. Die Mütter waren oft arm und unterernährt; sie waren nicht gesund und hatten ihre ungeborenen Kindern vielleicht mit gefährlichen Keimen infiziert.
Die arme Leonora war mit einem Mal wieder völlig außer sich.
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