Julias Geheimnis
Zeit genug.
Doch es kam anders. Zehn Minuten später, als sie im Schaukelstuhl saß und Ruby ihre Milch gab, kam Tom nach unten. Er stand in der Tür und rieb sich die Augen. Sein Blick erfasste sie und das Baby. »Was ist los?«, fragte er.
Vivien erzählte ihm, was passiert war. »Ich konnte nichts machen, Tom«, sagte sie. »Sie ist einfach in die Nacht verschwunden.«
»Und was ist das?« Tom nahm die Schuhschachtel vom Küchentisch, wo Laura sie hingestellt haben musste. In der ganzen Aufregung hatte Vivien es nicht einmal bemerkt.
»Keine Ahnung«, gab sie zurück.
Tom hob den Deckel ab. »Fotos«, sagte er. Er hielt sie hoch, um sie ihr zu zeigen. »Ein Mützchen.«
Rubys Mützchen. Vivien nickte. »Also nur ein paar Sachen von ihr.«
»Und das hier.« Er hielt ein kleines Stück Plastik in die Höhe. Vivien hatte so ein Ding schon einmal gesehen, wusste aber nicht, wie es hieß. Man benutzte es aber beim Gitarrespielen, so viel wusste sie. Sie dachte an die Gitarre, die sie in dem Campingbus gesehen hatte. Vermutlich war es Lauras.
»Und …« Tom hielt einen Strang winziger Perlen hoch. Eine Hippiekette. Vivien hatte mehr als einmal gesehen, wie Laura sie trug. »Warum sollte sie diese Sachen dagelassen haben, um Gottes willen?« Jetzt klang Tom zornig.
»Pssst.« Ruby wirkte so friedlich; Vivien wollte nicht, dass sie gestört wurde.
»Es sieht aus, als hätte sie dieses Mal nicht vor zurückzukommen«, sagte Tom und warf ihr einen finsteren Blick zu. Als ob sie etwas dafür könnte! Dann verließ er den Raum und stapfte die Treppe hinauf.
Als hätte sie dieses Mal nicht vor, zurückzukommen . Vivien ließ die Worte auf sich wirken. Was bedeutete das für sie? Was hieß das für sie – und für Ruby?
19. Kapitel
E s war ein Glück«, sagte Frances, »dass deine Mutter – Vivien, meine ich – da war, als Laura zurück nach Pride Bay kam. Wenn sie nicht gewesen wäre …« Sie ließ den Satz unvollendet
»Glaubst du, dieser Julio hat Laura unter Druck gesetzt?«, fragte Ruby. »Vielleicht hat er ihr ja ein Ultimatum gestellt. Ich will dich, aber ich bin nicht bereit, mich um das Kind eines anderen zu kümmern. So etwas in der Art.« Vielleicht gab sie ihm ja die Schuld, weil ihr das lieber war. Ruby hasste die Vorstellung, dass ihre Mutter sie einfach bei Vivien abgeladen hatte, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr alles über den Kopf wuchs. Welche Mutter machte so etwas? Sogar wenn sie so viel durchgemacht hatte wie Laura.
Was für eine Mutter … Was wäre passiert, wenn Laura nicht nach England zurückgekommen wäre? Wenn Ruby in Spanien als ihre Tochter aufgewachsen wäre? Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen. Wäre sie dann jemand ganz anderes?
»Das kann gut sein. Du weißt ja, wie junge Männer sind.« Frances zuckte die Achseln. »Ein Baby kann einen schon ganz schön einschränken.«
Ruby dachte an James. Ob er für Frances ein junger Mann war? Wahrscheinlich nicht – er war Ende dreißig. Und trotzdem hatte er nie die leiseste Absicht gezeigt, ruhiger zu werden, sich eine Frau, ein Baby oder so etwas zu wünschen. Ein Kind hätte ihn ganz bestimmt eingeschränkt. Dafürhatte er viel zu viel mit seinem Londoner Leben und seinen Klienten zu tun. Julio war damals wahrscheinlich erst Mitte zwanzig gewesen. Er war jung und liebte die Freiheit und einen Lebensstil, in dem Verantwortung keine Größe war. Wahrscheinlich hatte er es nicht abwarten können, den VW -Bus wieder in sonnigere Gegenden zu steuern, sich seinen nächsten Joint zu drehen und dann schwimmen zu gehen. Wer hätte ihm das auch verübeln können?
»Wenigstens hat Vivien mich gewollt«, meinte Ruby. Es klang ein wenig wie im Film, aber schließlich war es das Wichtigste, gewollt, geliebt zu werden.
»Oh, und ob sie dich wollte.« Frances lächelte. »Mehr als du dir jemals vorstellen kannst. Du warst ein Geschenk an Vivien, von irgendeiner Muttergöttin da oben.« Sie lachte. »Du hättest sie sehen sollen. Wenn sie auf dich aufgepasst hat, war sie glücklich wie ein junger Hund im Schuhschrank.«
»Aber warum haben die beiden mir nicht erzählt, wer ich bin und woher ich komme?«, fragte Ruby erneut. Das begriff sie immer noch nicht. »Wieso haben sie so ein großes Geheimnis daraus gemacht?«
»Sie haben dich beschützt«, sagte Frances. »Jedenfalls glaubten sie das.«
Weil ihre leibliche Mutter es nicht getan hatte? Das schien die unausgesprochene Botschaft zu sein. Aber im Leben
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