Julias Geheimnis
können, dass sie gelogen hatten? Am Ende machte es keinen großen Unterschied. Ruby gehörte schon lange zu ihnen. Dieses Stück Papier machte es nur ein wenig offizieller. Es würde sie und Ruby schützen. Nur darum ging es.
Doch nachdem Vivien die Urkunde in eine Schublade gelegt hatte, hielten ihre Finger auf dem Messingknopf kurz inne. »Verzeih mir«, flüsterte sie. Ob es an Ruby, Laura oder Pearl gerichtet war, wusste sie nicht. »Verzeih mir.«
Tom überredete Vivien, noch einmal umzuziehen: in ein Haus, das gleich an der Pride Bay lag. Er vermisse die goldenen Klippen, erklärte er ihr. Sie waren lange genug fortgewesen. Er wollte, dass seine Tochter an der Pride Bay aufwuchs wie er; das war ihm wichtig. Inzwischen drohte von niemand mehr Gefahr. Laura würde nie zurückkommen – warum sollte sie? Penny hatte die Poststelle und den Laden aufgegeben und war nach Norfolk gezogen. Außer Frances würde niemand wissen, was sie getan hatten oder dass Ruby nicht ihre Tochter war. Frances hatten sie zur Geheimhaltung verpflichtet. Sie waren sicher.
21. Kapitel
BARCELONA 1951
S panien erholte sich langsam von den Schäden und Schrecken des Bürgerkriegs und seiner blutigen Nachwehen, und Schwester Julia nahm wahr, wie sich ihr Vaterland langsam veränderte. Doch zugleich war sie sich bewusst, dass die Klostergemeinschaft von Santa Ana größtenteils noch so lebte wie vor fünfhundert Jahren. Die Nonnen wohnten immer noch in einem mittelalterlichen Gebäude, aßen einfache Speisen und verbrachten den größten Teil ihrer Zeit im Gebet. Gebete, Psalmen, Katechismus, heilige Kommunion – daraus bestand der Alltag der Schwestern. All ihre Aktivitäten folgten einem festgelegten Ablauf, und ihre Tage waren durch Routine strukturiert. Eine Glocke signalisierte das Ende jeder Tätigkeit, ob Gebet, Arbeit oder Mahlzeit. Und jeder Tag endete mit dem Nachtgebet. Schwester Julia fand diese Rituale tröstlich.
Da sich die Nonnen niemals müßigem Geschwätz hingaben, sprachen sie auch nicht darüber, was sie ins Kloster geführt hatte. Doch Schwester Julia stellte sich diese Fragen manchmal. Waren die anderen in den Orden eingetreten, weil sie sich Gott ganz hingeben wollten, weil sie sich ein Leben voller Kontemplation und Gebet wünschten? Oder waren sie um der Sicherheit willen in die Schwesternschaft eingetreten? Damit ihre Familie einen Kopf weniger zu füttern hatte? Vielleicht wies ja gerade der Umstand, dass sieimmer noch solche Fragen stellte – wenn auch nur still bei sich – darauf hin, dass ihr etwas fehlte? Mangelte es ihr an der Demut, die für den wahren Glauben und die Hingabe an Gott notwendig war? Würde sie nie zu derselben Hingabe in der Lage sein wie die anderen Schwestern der Gemeinschaft? Vielleicht war sie aber auch einfach mit zu viel Neugier geboren. Oder hatte ihre Arbeit bei Dr. López sie dazu gebracht, Dinge zu hinterfragen, an denen man nicht zweifeln sollte?
Im Vorraum von Santa Ana hing das Porträt einer frommen Nonne, deren Blick in ekstatischer Verzückung auf Gott gerichtet war. Sie hielt ein Kruzifix umklammert, und im Hintergrund sah man eine Bibliothek voll erbaulicher Bücher. Das Bild war einige Jahre vor Schwester Julias Eintritt ins Kloster von der reichen Familie ebendieser Nonne in Auftrag gegeben worden. Diese Familie war offensichtlich stolz auf ihre Tochter. Doch was dachte Schwester Julias Familie? Darüber grübelte sie häufig nach.
Ihre Mutter und ihre Schwestern hatten sie erst vor wenigen Tagen in Santa Ana besucht. Das war ein Schock gewesen, denn Schwester Julia hatte sie seit zwei Jahren nicht gesehen. Und ganze sechs Jahre war es schon her, seit sie von Palomas Heirat mit Mario Vamos erfahren hatte. Das letzte Mal war ihre Mutter allein gekommen, und ihr Besuch war sehr kurz gewesen. Aber Schwester Julia hatte Verständnis dafür. Familienbesuche wurden nicht so gern gesehen, und außerdem arbeitete sie so oft in der Klinik. In gewisser Weise war es fast leichter für sie, ihre Familie nicht zu sehen.
»Julia.« Ihrer Mutter traten Tränen in die Augen, doch sie umarmte sie nicht.
»Mama. Schwestern.« Schwester Julia senkte den Kopf,damit sich ihre Gefühle nicht Bahn brachen. Denn die drei hatten sich verändert. Ihre starke Mutter, die immer einen so aufrechten Gang gehabt hatte, ging nun gebeugt und machte einen erschöpften Eindruck. Matilde war schick gekleidet, aber ihr Blick war furchtbar kalt. Und Paloma … Palomas Anblick ging
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