Julias Geheimnis
einen Mann zu versorgen und Kinder in die Welt zu setzen.«
Tatsächlich? Schwester Julia dachte darüber nach. Sie dachte an die Frauen in der Klinik und das Leben, das sie führten. Ja, vielleicht war ihre Aufgabe wichtiger, als es ihr manchmal vorkam.
»Du kannst leicht sagen, dass es nicht wichtig ist, Kinder zu bekommen«, gab Paloma zurück. »Du bist schließlich nicht mit einem Mann verheiratet, für den es nur darauf ankommt.«
Matilde zuckte die Achseln. Sie stand auf, ging zu dem Bogenfenster und sah auf den Hof. »Wer möchte denn auch Kinder in diese Welt setzen, in eine Welt aus Krieg, Armut und Kummer?«, fragte sie. Ihre Stimme klang fast ausdruckslos, und ihr Blick war nicht zu deuten. Schwester Julia empfand großes Mitgefühl.
Sie dachte wieder an die Frauen in der Klinik. Merkwürdig, dass sie mit ihrer Familie über dieses Thema sprach, das ihr so am Herzen lag. Und die Antwort auf Matildes Frage? Die Antwort lautete, dass viele Frauen trotzdem Kinder in die Welt setzen wollten, ganz gleich, wie diese Welt aussah. Dieses Bedürfnis kam tief aus ihrem Inneren.
Ihre Mutter nickte betrübt. »Ich fürchte, du hast recht, Tochter.«
Erneut sahen alle drei Schwester Julia an. War sie diejenige, die Glück gehabt hatte? Es stimmte, dass der Eintritt ins Kloster ihr Sicherheit geschenkt hatte. In mancherlei Hinsicht war es eine Erleichterung gewesen, sich in eine Welt fernab von den Gräueln zurückzuziehen, die sie als Mädchen während des Spanischen Bürgerkriegs erlebt hatte. Sie hatte eine Zuflucht gefunden, und ihr fehlte es an nichts. Wenn Schwester Julia nicht arbeitete oder betete, konnte sie weiter Englisch und Geschichte studieren und lesen. In ihrem gefestigten Glauben hatte sie ein wenig Trost gefunden. Und was ihre Arbeit in der Klinik anging … Sie war anspruchsvoll und schwierig, körperlich wie emotional, aber sie gab ihrem Leben einen Sinn.
»Bist du mit deinem Leben zufrieden, mein Kind?«, fragte ihre Mutter, wie sie es vor Jahren schon einmal getan hatte.
Schwester Julia sah, dass ihre Mutter traurig war. Ganz ähnlich wie viele der madres solteras, die ihre Kinder weggaben in der Hoffnung, dass sie ein besseres Leben führen würden als das, das ihre eigene Mutter ihnen bieten konnte, hatte auch sie ihre Tochter einer anderen Welt überantwortet.
Wie konnte Julia die Glückliche unter den Schwestern sein? Wie sollte sie zufrieden sein? Sie hatte ihre Familie verloren und nie die Chance gehabt, ein normales Leben als Frau zu führen. Doch Schwester Julia sprach es nicht aus. Sie wollte ihre Mutter, die so viel geopfert hatte, nicht verletzen. Diesen Verlust konnte sie nicht rückgängig machen, aber sie konnte ihrer Mutter die Last des schlechten Gewissens nehmen. »Ich bin zufrieden, Mutter«, sagte sie also.
Wenigstens hatte sie durch ihre Arbeit die Freiheit, durch die Straßen von Barcelona zu laufen, dachte Schwester Julia auf dem Weg zur Canales-Klinik. Es war möglicherweise eine größere Freiheit, als ihre beiden verheirateten Schwestern sie genossen. Gehen, beobachten und nachdenken – vielleicht sogar mehr, als sie sollte. War sie eine Rebellin? Sie lächelte in sich hinein. Vielleicht, auf ihre eigene, bescheidene Art.
Unterwegs kam sie an prachtvollen Häusern vorbei, aber auch an Pensionen, deren Ruf zweifellos wechselhaft war. Sie sah die Hauswirtinnen, die draußen mit ihren Nachbarn plauderten oder ihre Fenster putzten, und fragte sich, wie dieZimmer aussehen würden. Feucht und schmierig? Mit einer nackten Glühbirne, die in einem kahlen Flur hing? Gesprungene Bodenfliesen, Fenstersimse mit einer dicken Schmutzschicht? Fadenscheinige Bettwäsche und alte, holzwurmzerfressene Möbel? Sie konnte es sich gut vorstellen … Vielleicht hatten Matilde und Paloma doch recht. Vielleicht war Julia diejenige, die Glück gehabt hatte.
Gestern hatte sie die Klinik früh verlassen, weil es dort derzeit sehr ruhig war, und irgendetwas hatte sie dazu bewogen, den Friedhof am Montjuïc zu besuchen. Sie erinnerte sich noch an die Geschichten ihres Vaters über die Männer, die dort eingekerkert und sogar hingerichtet worden waren. Am Paseo de Colón nahm sie den Bus, eine Linie, die den Montjuïc umrundete und dann die Straße zum östlichen Friedhofstor hinauffuhr. Lieber Gott im Himmel! Sogar von hier aus konnte sie die Gräberreihen erkennen, breite und schmale Wege mit Grabsteinen und Mausoleen. Die Grabsteine setzten sich bis auf die Hügelkuppe fort. Es
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