Julias Geheimnis
sah aus, als wären es Abertausende von Gräbern. Der Hauptweg des Friedhofs war von einem Regiment Zypressen bestanden, die schweigend über die Toten wachten. Es war ein kalter, leerer Ort, an dem die Echos des vergangenen Grauens noch widerzuhallen schienen.
Als Schwester Julia am nächsten Morgen in die Klinik ging, war ihr Herz schwer.
An diesem Tag war Dr. López’ Wartezimmer voll mit Frauen, die einen Termin bei ihm hatten. Schwester Julia assistierte oft bei den Untersuchungen, oder sie blieb einfach für den Fall, dass sie während der Sprechstunde gebraucht wurde, denn sehr oft waren diese Frauen emotional sehr aufgewühlt. Der Arzt agierte immer professionell. Aber Sensibilität und Mitgefühl waren bei Männern nur selten zu finden, und das galt umso mehr für einen Mann, der so beschäftigt war wie Dr. López. Auch hier hatte Schwester Julia das Gefühl, einen wertvollen Beitrag zu leisten.
Manchmal jedoch war ihre Anwesenheit nicht erforderlich, und der Arzt bedeutete ihr dies mit einer Handbewegung oder entließ sie mit einem knappen Wort. Schwester Julia hatte keine Ahnung, warum ihre Anwesenheit bei der Untersuchung mancher Frauen nicht vonnöten war. Doch sie pflegte diese Frauen bei späteren Terminen zu beobachten und achtete auf die Veränderungen an ihrem Körper, während ihre Schwangerschaft fortschritt. Und wieder stellte sie sich Fragen.
An diesem Nachmittag führte sie eine Frau hinein, die zwar einen weit geschnittenen Mantel trug, aber sonst keinerlei sichtbare Zeichen einer Schwangerschaft aufwies. Dieses Mal bat die Patientin darum, allein mit dem Arzt bleiben zu dürfen.
Dr. López zog eine seiner dichten, dunklen Augenbrauen hoch und bedeutete Schwester Julia mit einem Nicken, sie allein zu lassen. Sie gehorchte und wartete draußen im Flur für den Fall, dass man sie doch brauchen würde.
Stattdessen stürzte die Frau einige Minuten später plötzlich aus dem Sprechzimmer des Arztes und eilte auf sie zu.
»Geht es Ihnen gut, señora ?«, fragte Schwester Julia. Schwangere brauchten besondere Fürsorge, und die Frau benahm sich ziemlich merkwürdig.
» Sí, sí …« Die Frau ging zum Ausgang.
»Bitte warten Sie einen Moment.« Schwester Julia konnte nicht zulassen, dass sie aus der Klinik rannte, bevor sie sich gefasst und beruhigt hatte. Ihr Gesicht war rot vor Zorn.
Die Frau fuhr herum. »Mir geht es gut, Schwester«, schnaubte sie.
Was war in Dr. López’ Sprechzimmer vorgefallen? Schwester Julia nahm den Arm der Frau. »Bitte, möchten Sie sich nicht ein wenig ausruhen?«, fragte sie. »Kann ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser holen?« Sie behielt das Sprechzimmer im Auge, aber der Arzt schien sie im Moment nicht zu brauchen. Vielleicht machte er sich ja Notizen oder schrieb an einem Bericht.
Die Frau schüttelte den Kopf. Sie war völlig außer sich. »Es ist empörend, Schwester«, sagte sie. »Empörend.«
Schwester Julia wusste, dass sie das nicht tun sollte, aber sie wollte mehr hören. Daher führte sie die Frau in den ruhigen Raum gegenüber dem Wartezimmer. Er war den Frauen vorbehalten, die die Fassung verloren und ein paar Minuten allein sein mussten. Sie holte ihr ein Glas Wasser und setzte sich kurz zu ihr, bis Dr. López sie zu seinem nächsten Termin rufen würde.
»Kinder sollten bei ihren Müttern sein«, sagte die Frau. »Das ist ein Verbrechen gegen die bürgerliche Freiheit.«
In Schwester Julias Kopf schrillten Alarmglocken. Sie stand auf. Was sollte sie tun? Sie wollte mehr hören, aber sie wagte nicht zu fragen.
Doch die Frau sprach gar nicht von der Klinik. »Man reißt die Kinder aus ihren Familien«, erklärte sie. »Sie können sich nicht wehren. Wie können sie nur?«
»Das kann doch nicht sein«, beruhigte Schwester Julia sie, denn die Frau kam ihr ein wenig verwirrt vor. »Warum sollte jemand Kinder aus ihren Familien holen? Von wem reden sie?«
»Von denen, die im Verdacht stehen, Rote zu sein. So istdas heute. Es ist meiner eigenen Schwester passiert.« Die Frau zog ein Taschentuch aus der Handtasche und wischte sich die Augen. »Wenn die Eltern verdächtig sind, will man es wohl nicht darauf ankommen lassen, was sie ihre Kinder lehren könnten. Und Gehirnwäsche ist äußerst wirksam, verstehen Sie, Schwester.«
Schwester Julia bekreuzigte sich. »Aber ist so etwas möglich?« Sie wusste, dass sie sich nicht mit der Frau unterhalten sollte, und sie hoffte, dass Dr. López nicht aus seinem Sprechzimmer kommen und sie bei
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