Julias Geheimnis
wegziehen, weg aus West Dorset«, erklärte sie Tom. »Wir können es nicht riskieren, sie zu verlieren. Nicht jetzt.« Die Angst trieb sie zum Äußersten.
Doch Tom stellte sich stur, wie nur Tom das konnte. Er musste an sein Geschäft denken, sagte er. Er hatte sich in jahrelanger Arbeit einen Kundenstamm aufgebaut; das konnte er nicht einfach alles wegwerfen. Wollte Vivien wirklich, dass er für irgendeine Firma arbeitete und anderer Leute Fenster und Fußleisten reparierte? Außerdem liebte er dieses Haus, er war hier aufgewachsen. Er würde es nicht aufgeben, nicht einmal für Ruby. »Sie ist nicht unser Kind, Liebling«, erklärte er Vivien. »So ist das nun mal.«
Das mochte wahr sein, aber Vivien überredete ihn zu einem Kompromiss. Sie zogen nach Ost-Devon – nur zwanzig Meilen entfernt, aber wenigstens eine andere Grafschaft. So konnte er seine Kundschaft und seine Arbeit behalten. Der einzige Mensch aus Pride Bay, mit dem Vivien in Verbindung blieb, war Frances.
»Können wir sonst noch etwas tun?«, fragte Vivien ihn. Um sicher zu sein, meinte sie.
Tom ballte die Fäuste. »Wir könnten dafür sorgen, dass sie unser Kind wird.«
»Aber wie?« Sie machten sich gerade zum Schlafen fertig, und Ruby lag nebenan sicher in ihrem Bettchen.
Tom umfasste ihre Schultern. »Wir könnten sie doch selbst adoptieren, Viv«, sagte er.
Sie selbst adoptieren? Das klang nach der perfekten Lösung. Aber müssten sie sich dazu nicht Lauras Einverständnis einholen? Vivien war sich nicht sicher, ob sie das riskieren wollte.
»Und wenn das nicht geht …« Seine Miene verändertesich. »Dann werden wir Ruby irgendwann den Behörden übergeben müssen. Wir können nicht einfach weiter so tun, als wäre sie unser Kind.«
Vivien starrte ihn an. Das würde sie ganz sicher nicht zulassen, dachte sie.
»Viv?« Tom warf ihr einen merkwürdigen Blick zu.
Doch sie konnte nicht einmal mit ihm reden. In dieser Sekunde hasste sie den Mann, den sie liebte, beinahe. Und der Gedanke, den sie außerdem hatte, jagte ihr Angst ein. Nur über meine Leiche .
Vivien erfuhr nie, was Tom alles unternommen hatte, um Laura zu finden, denn sie fragte ihn nie danach. Etwas hatte sich an diesem Abend zwischen ihnen verändert. Zum ersten Mal hatte Vivien Tom nur an die zweite Stelle in ihrem Leben gesetzt, und er hatte es gemerkt. Sie sprachen es nicht laut aus, aber es war nicht mehr die Rede davon, Ruby den Behörden zu übergeben. Es war keine Option. Ende der Debatte.
Ruby wuchs zu einem kräftigen blonden Kleinkind heran, und Vivien dachte oft an Laura. Wo mochte sie sein? Was sie wohl tat? Und sie machte sich Sorgen. Hatten sie das Richtige getan? Sie hatten Ruby. Aber vielleicht würden sie – eines Tages, wenn Vivien am wenigsten damit rechnete – einen Preis dafür bezahlen müssen.
Tom, der immer praktisch dachte, wurde als Erstem klar, dass Ruby später ohne eine Geburtsurkunde Probleme bekommen würde. Offiziell würde sie weder einen Namen noch eine Identität besitzen, nicht einmal eine Staatsangehörigkeit. Doch wie sollten sie eine Kopie davon auftreiben? Sie wussten ja noch nicht einmal genau, wann oder wo Ruby geboren war?
»Dann müssen wir eben eine für sie machen lassen«, erklärte Tom, als rede er von einer seiner Auftragsarbeiten – einem Eichentisch vielleicht oder einer Mahagoni-Kommode. »Wie soll sie denn sonst an einen Pass oder Führerschein kommen? Sie existiert nicht – jedenfalls nicht vor dem Gesetz.«
Entsetzt sahen die beiden einander an. Sie hatten wirklich nicht richtig darüber nachgedacht.
»Aber wie sollen wir das anstellen? Das können wir doch nicht machen, oder?« Vivien hörte, dass ihre Stimme vor lauter Panik schrill klang. Wie sollten redliche Bürger wie sie herausfinden, wie man eine Geburtsurkunde fälschte? Und natürlich wäre das illegal. Sie hatte Angst. Aber was sollten sie sonst tun? Hier in Devon hatten sie Ruby als ihr eigenes Kind ausgegeben. Es kam ihr vor, als wäre sie ihr eigenes Kind. An manchen Tagen konnte Vivien kaum glauben, dass sie es nicht war.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben. Urkundenfälschung ist doch eine alte Kunst, oder?« Aber Tom sah genauso hilflos aus, wie sie sich fühlte.
Urkundenfälschung?
Tom legte den Arm um ihre Schultern. »Mach dir keine Sorgen, meine Schöne«, sagte er. »Wir schaffen das schon. Es kommt alles in Ordnung, du wirst schon sehen.«
Doch es war Vivien, die nun jede Nacht, wenn sie nicht schlafen
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