Julias Geheimnis
Himmels gewesen. Eine kinderlose Frau, die sich verzweifelt nach einem Kind sehnte. Eine Frau, deren Augen vor Sehnsucht gestrahlt haben mussten wie ein Leuchtfeuer.
Ab und zu holte Vivien die Schuhschachtel aus dem Kleiderschrank, in den sie sie gesteckt hatte, um sie nicht als ständige Erinnerung vor Augen haben zu müssen. Sie betrachtete das Plektrum und das gehäkelte Babymützchen. Es war so winzig … Schon jetzt passte es nicht mehr auf Rubys blondes Köpfchen. Sie sah die Fotos an: Laura mit Ruby auf dem Arm. Laura sah glücklich aus. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst, dass ihre Mutter gestorben war. Da war Laura mit Julio und Laura in dem VW -Bus. Vivien betrachtete die bunten Glasperlen. Sie erzählten ihr alles, was sie wissen musste. Laura hatte die kleine Ruby geliebt, auf ihre eigene Weise. Sie mochte sie aufgegeben haben, um ihr die Chance auf eine andere Art von Leben zu eröffnen. Aber Laura hatte sie ganz bestimmt geliebt.
Das bedeutete, dass Laura eines Tages zurückkommen würde, oder?
Vivien schloss die Augen und wiegte das Baby. Sie hatte Ruby gerade gebadet, und die Kleine roch nach Talkum-Puder. Vivien atmete tief ein. Der Duft von Babyhaut … War es so falsch von ihr, dass sie sich wünschte, Laura würde mit Julio irgendwo an einem fernen Strand bleiben? Wahrscheinlich war es das, denn ein Baby brauchte seine Mutter, oder? Die mütterliche Sehnsucht, die durch Viviens Adern strömte, wenn sie Ruby in den Armen hielt, war keine Entschuldigung dafür. Und auch nicht die Jahre der Frustration und Sehnsucht oder die überwältigende Liebe, die sie für das Kind empfand. Nein. Es gab keine Ausrede dafür. Anscheinend wollte sie Ruby unter allen Bedingungen behalten. Sie war wirklich so herzlos, wie sie immer befürchtet hatte.
Tom war nicht glücklich, das sah Vivien. Es lag weder an Ruby noch daran, dass Vivien ihre Stelle aufgegeben hatte. Das war ohnehin nur vorübergehend. Penny hatte gesagt, sie könne jederzeit zurückkommen. Es war eher ein moralisches Problem. »Wir sollten versuchen, Laura zu finden«, sagte er. »Das hier ist nicht richtig, und es ist nicht fair. Sie ist nicht unser Kind.«
Daran brauchte er Vivien nicht zu erinnern. Aber sie wollte nicht, dass sich etwas änderte. »Laura will sie nicht«, sagte sie und betete, dass er Laura nicht finden würde, selbst wenn er es versuchte. »Sie wird sich nicht richtig um sie kümmern; sie will nicht.« Wenn das emotionale Erpressung war, dann war es Vivien egal. Sie würde tun, was sie tun musste.
»Trotzdem«, sagte Tom. Aber als Ruby aufwachte, gluckste und aus ihren vergissmeinnichtblauen Augen zu ihm aufsah … Der arme Mann hatte keine Chance. Es war um ihn geschehen.
Die Tage vergingen. Ein paar Menschen, größtenteils Nachbarn, fragten, woher Ruby so plötzlich gekommen sei, und Vivien erklärte, dass sie ein Pflegekind angenommen hätten. Anscheinend hatte niemand Laura nach ihrer Rückkehr nach Dorset gesehen, daher wusste niemand, dass sie ein Kind hatte. Nur Frances kannte die ganze Geschichte.
Ruby wuchs. Vivien zweigte Geld aus der Haushaltskasse ab und kaufte ihr ein paar neue Kleidungsstücke. Sie begann auch, ihr feste Nahrung zu geben. Das Baby blieb jetzt über Tag länger wach und sah Vivien inzwischen auf eine Art an, die sie hätte nervös machen sollen. Sie tat es aber nicht. Vivien liebte es. Die Kleine begann zu zahnen, und Vivien rieb ihr schmerzendes Zahnfleisch mit Nelkenölextrakt ein. Sie versuchte, ihr neues Leben nicht zu sehr zu genießen, nur für den Fall, dass es ihr plötzlich wieder genommen werden könnte. Aber die Wahrheit war, dass Ruby ihre Welt verändert hatte.
Eines Abends hatte Vivien der Kleinen ein Schlaflied gesungen und sie dann ins Bett gelegt. Als sie aufblickte, sah sie Tom in der Tür des Zimmers stehen, das – zumindest für Vivien – inzwischen Rubys Zimmer war. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den Vivien nur allzu gut kannte.
»Was ist, Tom?«
»Wir haben keine offiziellen Rechte, Liebling«, sagte er. »Es geht nicht nur um Laura. Wenn die Wahrheit herauskommt, könnte Ruby uns von den Behörden weggenommen und in Pflege gegeben werden.«
Vivien erschauerte. Daran mochte sie nicht einmal denken. Zusammen mit Ruby war ihr eine Verantwortung übertragen worden. Pearls Enkeltochter durfte nicht einfach irgendeinem Fremden zur Adoption überlassen werden. Sie konnte den Gedanken daran nicht ertragen.
»Wir müssen von hier
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