Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
Alles aber vermehrte meinen lächerlichen Argwohn, und er konnte in seinem menschenfreundlichen Eifer nichts noch so redlich zu meinen Gunsten thun, was meine blinde Eifersucht nicht zu einem Anzeichen seiner Verrätherei gemacht hätte. In Besançon erfuhr ich, daß er an Julie geschrieben hatte, ohne mir ein Wort davon zu sagen. Ich hielt mich nun für hinlänglich überzeugt, und nur noch die Antwort, über die ich ihn mißvergnügt zu finden hoffte, erwartete ich, um mit ihm zu der Aufklärung zuschreiten, über welche ich brütete.
    Gestern Abend kamen wir ziemlich spät nach Hause, und ich erfuhr, daß ein Packet aus der Schweiz gekommen war, wovon er aber nichts gegen mich erwähnte, als wir uns trennten. Ich ließ ihm Zeit, es zu öffnen; von meinem Zimmer aus hörte ich ihn etwas zwischen den Zähnen murmeln, während er las. Ich legte das Ohr an und lauschte. Ach, Julie, sagte er in abgebrochenen Sätzen, ich habe Sie glücklich machen wollen .... ich achte Ihre Tugend .... aber ich beklage Ihren Irrthum. Bei diesen Worten und anderen ähnlichen, die ich vollkommen deutlich vernahm, war ich nicht mehr Herr meiner selbst; ich nahm meinen Degen unter den Arm; ich öffnete, nein ich durchbrach die Thür; ich trat wie ein Wüthender ein. Nein, ich will nicht dieses Papier, noch Ihre Blicke mit den Schmähungen besudeln, welche mir dir Wuth eingab, um ihn dazu zu bringen, daß er sich auf der Stelle mit mir schlüge.
    O meine Cousine! da vornehmlich konnte ich recht die Herrschaft wahrnehmen, welche die wahre Weisheit selbst über die reizbarsten Menschen erlangt, wenn sie ihrer Stimme Gehör geben wollen. Zuerst begriff er nicht, was ich wollte, und glaubte, daß wirklicher Wahnsinn aus mir spräche; aber da ich ihm immerfort Verrätherei vorwarf, ihm geheime Absichten Schuld gab und nicht aufhörte, von dem Briefe Juliens zu sprechen, den er noch in der Hand hielt, so erkannte er endlich die Ursache meiner Wuth. Er lächelte; dann sagte er kalt: Sie haben den Verstand verloren, und ich schlage mich mit keinem Sinnbethörten. Oeffnen Sie die Augen, Blinder, der Sie sind! setzte er mit sanfterem Tone hinzu; mich beschuldigen Sie, daß ich Sie verrathe? Ich fühlte in dem Ausdrucke, mit welchem er dies sagte, Etwas, das keinen Treulosen anzeigte; der Ton seiner Stimme bewegte mir das Herz; ich hatte ihm kaum in seine Augen geblickt, so war all meinArgwohn wie hinweggewischt und mit Entsetzen begann ich meine Ungereimtheit einzusehen.
    Er bemerkte diese Veränderung augenblicklich; er reichte mir die Hand. Kommen Sie , sagte er zu mir; wenn Ihre Umkehr nicht meiner Rechtfertigung zuvorgekommen wäre, würde ich Sie in meinem Leben nicht wieder gesehen haben. Jetzt, da Sie vernünftig sind, lesen Sie diesen Brief und lernen Sie endlich Ihre Freunde kennen. Ich wollte mich weigern, den Brief zu lesen, aber das Uebergewicht, welches ihm so viele Autorität zu fordern, den, wiewohl mein schwarzer Verdacht zerstreut war, mein geheimer Wunsch nur zu sehr unterstützte.
    Denken Sie sich, wie mir zu Muthe war, nachdem ich diesen Brief gelesen hatte, aus welchem ich die unerhörten Wohlthaten des Mannes erfuhr, den ich so unwürdig zu verleumden gewagt hatte. Ich stürzte mich zu seinen Füßen, und das Herz beladen mit Bewunderung, reue und Scham, drückte ich seine Kniee an mich, ohne ein einziges Wort hervorbringen zu können. Er nahm meine Reue auf, wie er meine Schmähungen aufgenommen hatte, und forderte von mir als Preis der Verzeihung, die er mir gewährte, nichts, als das Versprechen, mich dem guten nicht zu widersetzen, das er mir erzeigen wollte. Ach, möge er fortan thun, was ihm gefällt, seine hohe Seele ist über die anderer Menschen erhaben, und es ist so wenig erlaubt, sich seinen Wohlthaten zu widersetzen, als denen der Gottheit.
    Hierauf gab er mir die beiden Briefe, welche an mich gerichtet waren und die er mir nicht eher hatte geben wollen, als bis er den seinigen gelesen und ersehen, was Ihre Cousine beschlossen hatte. Ich sah, indem ich las, was für eine Geliebte und was für eine Freundin der Himmel mir geschenkt hat; ich sah, was für Empfindungen, was für Tugenden er um mich versammelt hat, um meine Gewissensbisse zu schärfen und meine Niedrigkeit noch verächtlicher zu machen. Sagen Sie, was für eine einzige Sterbliche ist diese, deren geringste Herrschaft in ihrer Schönheit liegt, die, ähnlich den ewigen Mächten, sich durch das Gute wie durch das Ueble, das sie zufügt, gleichermaßen

Weitere Kostenlose Bücher