Julie oder Die neue Heloise
höflich, sehr freundschaftlich, sehr zuvorkommend aufnähme, daß nicht alle möglichen Gefälligkeiten mir entgegenzufliegen schienen; aber das ist eben das Schlimme. Wie kann man im Augenblicke Jemandes Freund sein, den man nie gesehen hat? Die aufrichtige Theilnahme der Menschenfreundlichkeit, die schlichte, rührende Hingebung einer offenen Seele haben eine Sprache, die von den falschen Höflichkeitsbezeigungen und trügerischen Formen, die der Weltbrauch heischt, gar sehr verschieden ist. Ich habe immer Furcht, daß Der, welcher mich beim ersten Begegnen wie einen zwanzigjährigen Freund behandelt, mich nach zwanzig Jahren wie einen Unbekanntenbehandeln werde, wenn ich ihn etwa um einen wichtigen Dienst zu bitten habe, und wenn ich Leute, die so in Zerstreuungen leben, zärtlichen Antheil an so vielen Personen nehmen sehe, kommt es mir immer vor, als nähmen sie ihn an keinem Einzigen.
Es ist aber dennoch etwas ernstlich Gemeintes in dem allen, denn der Franzose ist von Natur gut, offen, gastfreundlich, mildthätig; aber er macht auch tausend Redensarten, die man nicht buchstäblich nehmen muß, tausend Anerbietungen zum Schein, die nur gemacht werden, damit man sie ablehne, tausend Fallen so zu sagen, die die Höflichkeit dem ehrlichen Glauben des unpolirten Menschen stellt. Nie habe ich so oft sagen hören: zählen Sie aus mich vorkommenden Falles, verfügen Sie über meinen Einfluß, meine Börse, mein Haus, meine Equipage. Wäre das alles aufrichtig gemeint und wörtlich zu nehmen, so gäbe es kein Volk, das weniger am Eigenthume hinge; es wäre hier fast Gütergemeinschaft eingeführt; indem der Reichere immer gäbe und der Aermere immer annähme, würde sich Alles auf die natürlichste Weise ebnen und Sparta selbst hätte keine so gleichmäßige Vertheilung gehabt, als sie sich in Paris fände. Statt dessen giebt es vielleicht keine Stadt, wo die Glücksgüter so ungleich ausgetheilt wären und so hart neben dem üppigsten Wohlstande das kläglichste Elend herginge. Mehr braucht es nicht, um einzusehen, was es auf sich hat mit diesem zur Schau getragenen Mitgefühle, das dem fremden Bedürfnisse stets entgegenzukommen scheint, und mit dieser immer bereiten Herzlichkeit, die im Augenblicke ewige Freundschaft schließt
[Vergl. „Bekenntnisse“ Th. 2 S. 113-114.]
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Statt solcher zweideutigen Gesinnungen und trügerischen Traulichkeit will ich Aufklärung und Belehrung suchen, man ist hier an der liebenswürdigen Quelle; ja, man ist von vorn herein bezaubert von den Kenntnissen und Einsichten, die man im Gespräche, nicht allein bei Gelehrten und Literaten, sondern bei Leuten aller Stände und selbst bei den Frauen findet: der Ton der Unterhaltung ist fließend und natürlich, weder schwerfällig noch oberflächlich, gelehrt ohne Pedanterei, munter ohne Getöse, galant ohne Fadheit, witzig ohne Zweideutigkeiten. Man spricht weder in Abhandlungen noch in Epigrammen; man begründet, ohne mühsam zu entwickeln; man scherzt, ohne in Worten zu spielen; man verbindet geschickt Leichtigkeit und Tiefe, leitende Gedanken und gelegentliche Einfälle, scharfen Spott, gewandte Schmeichelei und strenge Moral; man spricht über Alles, damit Jeder etwas zu sagen finde; man geht den Fragen nicht bis auf den Grund, um nicht zu langweilen, man wirft sie wie im Vorübergehen auf, spricht sie kurz durch; die Kürze des Ausdrucks führt zur Eleganz; Jeder sagt seine Meinung und begründet sie mit wenigen Worten; Niemand greift die Meinung des Andern mit Eifer an, Niemand vertheidigt die seinige mit Eigensinn; man discutirt, um sich aufzuklären und hält inne, ehe es zum Disput kommt; Jeder belehrt sich, Jeder ergötzt sich; Alle gehen zufrieden fort, und selbst der Weise kann aus diesen Unterhaltungen Manches mit heim nehmen, was in der Stille erwogen zu werden verdient.
Im Grunde aber, was meinst du wohl, daß man aus diesen so reizenden Unterhaltungen lerne? Sich ein gesundes Urtheil über die Dinge der Welt bilden? sich richtig in der Gesellschaft stellen? wenigstens die Leute kennen, mit denen man lebt? Nichts von dem Allen, meine Julie; man lernt, mit Kunst die Sache der Lüge führen, mittelst der Philosophie alle Grundsätze der Tugend erschüttern, mit subtilen Sophismen seine Leidenschaften und Vorurtheile beschönigen und dem Verkehrten einen gewissen Modeanstrich nach der herrschenden Denkart geben. Es ist nicht nöthig den Charakter der Leute zu kennen, sondern nur ihre Interessen, um ungefähr zu errathen, was
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