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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sie zu jeder Sache sagen werden. Wenn Einer spricht, so ist es so zu sagen sein Rock, nicht er, der eine Meinung hat, und er wird damit ohne Bedenken ebenso oft wie mit seinem Staate wechseln. Gebt ihm nach einander eine lange Perrücke, dann ein Ordonnanzkleid, dann ein Brustkreuz und ihr werdet ihn nach einander mit gleichem Eifer die Gesetze, den Despotismus und die Inquisition predigen hören. Es giebt einen Menschenverstand für die Robe, einen anderen für die Finanzpartie, einen anderen für den Degen; jeder von diesen beweist aufs stärkste, daß die beiden anderen nichts taugen, woraus die Folgerung für alle drei leicht zu ziehen ist
[Man muß diese Bemerkung einem Schweizer schon hingehen lassen, der bei sich zu Hause einen wohl regierten Staat sieht, ohne daß
es jene besonderen Stände giebt. Wie? Kann der Staat ohne Vertheidiger bestehen? Nein! er muß wehrhaft sein, aber alle Bürger müssen Soldaten sein aus Pflicht, nicht aus Beruf. Dieselben Männer waren bei den Römern und Griechen Anführer im Felde und
Staatsbeamte daheim, und nie wurden beiderlei Geschäfte besser verrichtet, als da man noch nicht die lächerlichen Standesvorurtheile kannte, welche dieselben von einander scheiden und verunehren.]
. So sagt Keiner je, was er denkt, sondern nur was er Andere glauben machen will, und der vorgebliche Eifer für die Wahrheit ist bei ihnen immer nur die Maske des Interesses.
    Man sollte denken, daß wenigstens einzelnstehende, unabhängig lebende Personen ihren eigenen Sinn haben werden: keinesweges! abermals Maschinen, die nicht denken, die zum Denken wie ein Uhrwerk aufgezogen werden. Man braucht sich nur nach ihren Gesellschaften, ihren Coterien, ihren Freunden, nach den Frauen, die sie besuchen, nach den Schriftstellern, mit denen sie umgehen, zu erkundigen, und man kann aufs genaueste vorhersagen, wie sie über ein Buch, das nächstens erscheinen soll und das sie nicht gelesen haben, über ein Stück, das man geben wird und das sie nicht gesehen haben, über den und den Autor, den sie nicht kennen, über das und das System, wovon sie keine Vorstellung haben, ihre Meinung abgeben werden; und gerade wie eine Uhr in der Regel nur vierundzwanzig Stunden geht, so holen sich alle diese Leute jeden Abend in ihren Gesellschaften das, was sie den folgenden Tag denken werden.
    Es giebt also eine kleine Anzahl von Männern und Frauen, die für alle Anderen denken und für welche alle Anderen reden und handeln, und da Jeder nur an sein Interesse, Niemand an das gemeine Wohl denkt, die Privatinteressen aber einander immer entgegengesetzt sind, so ist es ein beständiger Zusammenstoß von Ränken und Kabalen, eine Ebbe und Flut von Vorurtheilen, widerstreitenden Meinungen, wobei die Erhitztesten, von den Anderen getrieben, fast niemals wissen, um was es sich eigentlich handelt. Jede Coterie hat ihre Regeln, ihre Meinungen, ihre Prinzipien, welche sonst nirgend anerkannt sind. Der brave Mann des einen Hauses ist im Nachbarhause ein Schuft. Gut, schlecht, schön, häßlich, Wahrheit, Tugend, Alles hat nur ein lokales und bedingtes Dasein. Wer gern viel umher ist und mehre Gesellschaften besucht, muß geschmeidiger sein als Alcibiades, die Ansichten wie die Assembleen wechseln, seinem Geist bei jedem Schritte, so zu sagen, einen andern Zuschnitt geben und seine Maximen nach der Elle abmessen; er muß bei jeder Visite seine Seele, wenn er eine hat, vor der Thüre lassen, eine andere nach den Farben des Hauses anziehen, wie ein Lakai die Livreen, um sie im Hinausgehen wieder abzulegen, und mit der seinigen, wenn er will, bis zum abermaligen Wechsel zu vertauschen.
    Noch mehr. Jeder setzt sich unaufhörlich mit sich selbst in Widerspruch, ohne daß es Jemanden einfällt, Anstoß hieran zu nehmen. Man hat seine Denkungsart für die Conversation und seine Denkungsart für das praktische Leben; daß diese einander widersprechen, findet Niemand auffallend; man ist vielmehr darüber einverstanden, daß sie gar nichts mit einander gemein haben müssen; man fordert nicht einmal von einem Schriftsteller, sonderlich von einem Moralisten, daß er in Uebereinstimmung mit seinen Büchern spreche, oder daß er handle wie er spricht; seine Schriften, seine Reden, seine Ausführung sind drei völlig verschiedene Dinge, die er nicht verpflichtet ist gleichförmig einzurichten; mit einem Worte, Alles ist widersinnig und kein Mensch wundert sich darüber, weil alle Welt daran gewöhnt ist; ja es liegt sogar in solcher

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