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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Haltungslosigkeit etwas von gutem Tone, so daß sie sich Manche zur Ehre rechnen. In der That, obgleich Alle eifrig ihren Stand und Beruf herausstreichen, ahmen sie doch zugleich am liebsten die Manieren eines anderen nach. Der Robenmann tritt chevaleresk auf, der Finanzmann spielt den großen Herrn, der Bischof führt galante Reden, der Hofmann spricht von Philosophie, der Staatsmann will für einen Schöngeist gelten; so geht es bis zum Handwerker herunter, der, da er keinen andern Ton annehmen kann als den seinigen, wenigstens Sonntags einen schwarzen Rock anzieht, um wie eine Gerichtsperson auszusehen. Nur die Militärs, die alle übrigen Stände verachten, behalten
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den Ton des ihrigen bei und sind unausstehlich aus Ehrlichkeit. Ich will nicht sagen, daß nicht Herr von Muralt
[In den Lettres sur les Fran
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ois et les Anglois (1726. 2 Bde. in 12.), Muralt, ein Berner, starb gegen 1750. D. Ueb.]
Recht hatte, ihren Umgang jedem andern vorzuziehen, aber was zu seiner Zeit wahr war, ist es heute nicht mehr. Der Fortschritt der Literatur hat den allgemeinen Ton verbessert; die Militärs allein haben nicht mit fortgehen wollen, und so ist der ihrige, der ehedem der beste war, der schlechteste geworden
[Dieses Unheil, wahr oder falsch, kann nur von den Subalternen verstanden werden, und von solchen, die nicht in Paris leben; denn übrigens sind die höchsten Personen des Landes im Dienste und der Hof selbst ist ganz militärisch. Aber für die Manieren, welche man sich aneignet, macht es einen großen Unterschied, ob man in Kriegszeiten zu Felde liegt, oder ob man sein Leben in Garnisonen hinbringt.]
.
    So sind die Leute, mit denen man zu thun hat, nicht dieselben, mit denen man sich unterhält; ihre Gesinnungen kommen ihnen nicht von Herzen, ihre Einsichten wurzeln nicht in ihrem Geiste, ihre Reden geben nicht ihre Gedanken wieder; man sieht von ihnen nichts als ihr Aeußeres und man befindet sich in einer Assemblee etwa wie vor einem Gemälde mit beweglichen Figuren, wo der ruhige Zuschauer das einzige durch sich selbst bewegte Wesen ist.
    Dies ist die Idee, welche ich mir von der großen Gesellschaft, nach dem, was ich in Paris sehe, gebildet habe. Diese Idee steht vielleicht mehr in Verhältniß zu meiner besondern Lage, als zu der wahren Beschaffenheit der Dinge und würde sich ohne Zweifel, die Dinge in anderem Lichte gesehen, umgestalten. Uebrigens besuche ich nur die Gesellschaften, in die mich Milord Eduard's Freunde eingeführt haben, und ich bin überzeugt, daß man zu anderen Ständen hinuntersteigen muß, um den sittlichen Zustand eines Landes wahrhaft kennen zu lernen; denn die Sitten der Reichen sind überall so ziemlich die nämlichen. Ich werde darüber noch mehr in's Reine zu kommen suchen. Inzwischen sage, ob ich nicht Recht habe, dieses Menschengewühl eine Wüste zu nennen und vor einer Oede zu erschrecken, in welcher ich nichts gewahre, als den leeren Schein von Empfindung und von Wahrheit, welcher sich mit jedem Augenblicke wandelt und sich selbst zerstört, nichts als Larven und Spukgestalten, die einen Augenblick lang vor dem Auge stehen und, sobald man danach greifen will, verschwinden. Bisher habe ich viele Masken gesehen; wann werde ich menschliche Gesichter erblicken?
     
Fünfzehnter Brief.
Von Julie.
    Ja, mein Freund, wir werden vereinigt sein, trotz unserer Trennung, werden glücklich sein, trotz unserem Schicksal. Die Vereinigung ist das, was die Herzen wahrhaft beglückt; ihre Anziehungskraft kennt das Gesetz der Entfernungen nicht und an den äußersten Enden der Welt würden die unsrigen sich berühren. Ich finde wie du, daß Liebende tausend Mittel haben, das Gefühl des Entferntseins zu mildern und im Augenblicke einander nah zu sein: manchmal sieht man sich sogar noch öfter, als wenn man sich alle Tage sähe; denn so oft einer von beiden allein ist, sind im Nu beide bei einander. Wenn du jeden Abend diese Freude hast, so habe ich sie hundertmal des Tages; ichlebe einsamer, überall sehe ich von dir die Spuren und ich kann auf keinen der Gegenstände, die mich umgeben, die Augen richten, ohne dich um mich zu sehen.
Quì cando dolcemente, e quì s'assise:
    Quì si rivolse, e quì ritenne il passo;
    Quì co' begli occhi mi trafise il core;
    Quì disse una parola e quì sorrise.

    [
Hier sang er lieblich, hier setzt' er sich nieder
    Hier wandt' er sich, hier hemmt' er seine Schritte
    Traf hier mein Herz mit seiner Augen Blitzen,
    Sprach hier mit mir, sah hier mich an

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