Julie oder Die neue Heloise
Hinderniß, ohne Furcht, ohne Gewissensbisse genießen. Adieu, adieu; ich kann nicht weiter.
N. S. Wir haben Milord Eduard nur einen Augenblick gesehen, so große Eile hatte er weiterzukommen. Voll, wie mir das Herz von dem ist, was wir ihm schuldig sind, wollte ich ihm meinund dein Gefühl ausdrücken, aber eine gewisse Scham hielt mich zurück. In der That. einen Mann wie ihn heißt es beleidigen, wenn man ihm für etwas dankt.
Sechzehnter Brief.
An Julie.
Wie machen ungestüme Leidenschaften den Menschen kindisch! Wie leicht nährt sich eine tolle Liebe mit Chimären! Wie leicht ist es, heftige Begierden mit dem geringsten Tand zu äffen! Die Ankunft deines Briefes hat mich in ein Entzücken versetzt, als ob du selber angekommen wärest, und in meinem Jubel konnte ein Stück Papier mir dich ersetzen. Eines der größten Uebel, wenn man von einander entfernt ist, und wogegen keine Vernunft etwas ausrichtet, ist die Unruhe über das Ergehen der Geliebten. Ihre Gesundheit, ihr Leben, ihre Ruhe, ihre Liebe, Alles entweicht dem, der Alles zu verlieren fürchtet; man ist der Gegenwart nicht gewisser als der Zukunft und alle möglichen Zufälle verwirklichen sich unablässig im Geiste eines Liebenden, der sie fürchtet. Endlich athme ich auf, ich lebe wieder; du besinnest dich wohl, du liebst mich. Oder vielmehr es ist zehn Tage her, daß dies Alles so war; wer steht mir aber für heute? O Abwesenheit! o Marter! o seltsam böser Zustand, wo man nur des vergangenen Augenblicks genießen kann und der gegenwärtige noch nicht ist!
Wenn du mir von der Unzertrennlichen nichts gesagt hättest, so würde ich doch ihre Malice in der Kritik über meinen Bericht und ihre Rache in der Vertheidigung Marini's erkannt haben; aber wenn es mir erlaubt wäre, die meinige zu führen, so würde ich um die Antwort nicht in Verlegenheit sein.
Erstlich, Cousinchen (denn ihr muß ich ja antworten), was den Styl betrifft, so habe ich ihn nach der Sache gehalten; ich habe Ihnen zugleich eine Idee und ein Beispiel von den Mode-Conversationen geben wollen, und, zufolge der allen Regel, habe ich Ihnen so geschrieben, wie man ungefähr in gewissen Gesellschaften spricht. Uebrigens ist nicht der Gebrauch von Redefiguren das, was ich an dem Cavalier Marin tadle, sondern seine Art, sie zu wählen. Wenn man ein warmes Gemüth hat, so kann man der Metaphern und Bilder nicht entrathen, um sich verständlich zu machen. Ihre Briefe selbst sind voll davon, ohne daß Sie daran denken, und ich behaupte, nur ein Mathematicus und ein Dummkopf können unfigürlich sprechen. In der That, läßt sich nicht ein und derselbe Gedanke in hundert Abstufungen der Stärke ausdrücken? Und wonach soll man die jedesmal erforderliche Stufe bestimmen, wenn nicht nach der beabsichtigten Wirkung? Ich gestehe, ich muß über meine eigenen Phrasen lachen, und ich finde sie äußerst abgeschmackt. Dank sei es der Mühe, die Sie sich gegeben haben, sie aus dem Zusammenhange zu reißen; aber lassen Sie sie an ihrer Stelle und Sie werden sie klar und selbst ausdrucksvoll finden. Wenn diese aufgeweckten Augen, die Sie so trefflich sprechen zu lassen verstehen, von einander und von Ihrem Gesicht getrennt wären, Cousine, was meinen Sie, würden dieselben mit allem ihrem Feuer sagen? Nichts, wahrhaftig, auch nicht einmal dem Herrn von Orbe.
Ist nicht das Erste, was sich in einem Lande, das man betritt, der Beobachtung darbietet, der Ton der Gesellschaft? Nun recht! es ist auch das Erste, was ich hier beobachtet habe, und ich habe Ihnen erzählt, was man in Paris sagt, nicht was man daselbst thut. Wenn ich bemerkt habe, daß die Reden, die Meinungen und die Handlungen der guten Leute nicht zusammenstimmen, so kommt das daher, weil dieser Zustand beim ersten Blick in die Augen fällt. Wenn ich die nämlichen Personen je nach der Coterie ihre Farbe wechseln sehe, in der einen Molinisten, in der andern Jansenisten, kriechende Zöglinge bei einem Minister, trotzige Frondeurs bei einem Unzufriedenen; wenn ich sehe, daß ein goldbedeckter Mann über den Luxus, ein Finanzmann über die Auflagen, ein Prälat über unordentliches Leben schreit; wenn ich eine Hofdame von Sittsamkeit, einen vornehmen Herrn von Tugend, einen Schriftsteller von Einfalt, einen Abbé von Religion reden höre, und kein Mensch sich über dergleichen Widersinn wundert, muß ich nicht daraus im Augenblicke den Schluß ziehen, daß hier den Leuten ebensowenig daran gelegen ist, die Wahrheit zu hören als zu sagen,
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