Julie oder Die neue Heloise
Gebrechen der Menschen überhaupt rügt, da man doch mit den Menschen lebt. Bin ich jetzt nicht selbst ein Bewohner von Paris? Vielleicht habe ich, ohne es zu wissen, schon meinen Theil zu der Unordnung beigetragen, die ich dort bemerke; vielleicht würde ein zu langer Aufenthalt hier auch meinen Willen verderben; vielleicht würde ich nach einem Jahre auch nichts weiter als eine gemeine Bürgerseele sein, wenn ich nicht, um deiner würdig zu bleiben, die Seele eines freien Mannes und die Tugenden des Bürgers
[Was oben durch „Bürgerseele“ gegeben ist, heißt im Originale
„bourgeois“; was durch „Bürger“ „citoyen“. Unser „Bürger“ entspricht citoyen recht gut; bourgois durch „Pfahlbürger“ oder „Spießbürger“ zu geben, schien nicht passend, da diese Wörter einen Beigeschmack haben, der mit dem des bourgois von Paris nicht übereinkommt. D. Uebers.]
mir erhielte. Laß mich also, ohne mir Zwang aufzulegen, Gegenstände, denen ich erröthen würde ähnlich zu sein, dir schildern, und eben durch Gemälde der Schmeichelei und Lüge mich zu reinem Eifer für die Wahrheit befeuern.
Wenn ich über meine Beschäftigungen und über mein Schicksal frei gebieten könnte, würde ich, zweifle nicht, andere Gegenstände für meine Briefe wählen, und mit jenen warst du doch nicht unzufrieden, die ich dir aus Meillerie und dem Wallis schrieb; aber, geliebte Freundin, damit ich die Kraft gewinne, deren ich bedarf, das Getümmel der Welt, in der ich nun leben muß, zu ertragen, muß ich wenigstens den Trost haben, es dir schildern zu dürfen und mich durch den Gedanken, daß ich Stoff zu Briefen an dich brauche, anspornen, ihn zu suchen. Sonst wird mich Muthlosigkeit bei jedem Schritte befallen und ich werde Alles müssen fahren lassen, wenn du es nicht mit mir erleben willst. Bedenke, daß ich, um eine Lebensart zu führen, die so wenig mit meiner Neigung übereinkommt, eine Anstrengung nöthig habe, die ihrer Ursache nicht unwürdig ist, und damit du siehest, welche Bemühungen mich dir zuführen können, erlaube, daß ich dir manchmal von den Lebensregeln, die man kennen muß, erzähle, und von den Hindernissen, die man zu überwinden hat.
Ungeachtet meines langsamen Schreibens und der unvermeidlichen Zerstreuungen war meine Sammlung schon fertig, als dein Brief zu gutem Glücke ankam, um meine Arbeit zu verlängern, und ich bewundere, indem ich seine Kürze betrachte, wie Vieles mir dein Herz in so geringem Raume zu sagen gewußt hat. Nein, ich behaupte, daß es nichts Köstlicheres zu lesen giebt, für Den der eine der unsrigen verwandte Seele hat. Aber wie wäre es möglich, dich nicht zu kennen, wenn man deine Briefe liest? Sieht man nicht bei jedem Satze den sanften Blick deiner Augen? Hört man nicht bei jedem Worte deine liebliche Stimme? Welche Andere als Julie hat je geliebt, gedacht, gesprochen, gehandelt, geschrieben wie sie? Sei also nicht erstaunt, wenn deine Briefe, die dich so ganz abmalen, manchmal auf deinen abgöttischen Liebhaber dieselbe Wirkung machen wie deine Gegenwart. Indem ich sie lese, rauben sie mir den Verstand, es schwillt mir vor den Sinnen, ein verzehrendes Feuer entzündet mein ganzes Wesen, mein Blut wallt und siedet, eine Wuth durchzittert mich. Ich glaube dich zu sehen, dich zu berühren, dich an meine Brust zu drücken …. Angebetetes Wesen, bezauberndes Mädchen, Quell aller Wonne und Wollust, wie soll ich, wenn ich dich sehe, nicht die Houris sehen, die der Seligen im Paradiese warten? .... O, komm …. Ich fühle sie .... und fort ist sie, ich umfasse einen bloßen Schatten .... Es ist wahr, geliebte Freundin, du bist zu schön und du warst zu zärtlich für mein schwaches Herz; es kann weder deine Schönheit vergessen, noch deine Liebkosungen; deine Reize tragen über die Abwesenheit den Sieg davon, sie verfolgen mich überall, sie machen, daß ich mich fürchte allein zu sein; und das ist der Gipfel meines Elendes, daß ich mich immer und immer nur mit dir beschäftigen kann.
Sie werden also verbunden werden, trotz der Hindernisse, oder vielmehr sie sind es schon, indem ich dieses schreibe! Liebenswerthes und würdiges Paar! möge der Himmel auf sie das Glück häufen, welches ihre verständige, ruhige Liebe, ihre Sittenreinheit, ihr Seelenadel verdient! möge er ihnen das kostbare Glück schenken, womit er so geizig ist gegen Herzen, die geschaffen sind, es zu schmecken! wie glücklich werden sie sein, wenn er ihnen Alles das gewährt, was er, ach, uns
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