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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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und daß man nicht nur weit davon entfernt ist, die Andern von dem, was man sagt, überzeugen zu wollen, nein! daß man nicht einmal den Glauben ihnen beizubringen sucht, daß man selbst glaube was man sagt?
    Aber genug des Spaßes mit Cousinchen. Fort mit einem Tone, der uns allen Dreien fremd ist, und ich hoffe, du sollst es eben so wenig erleben, daß ich Geschmack an der Satyre als an der Schöngeisterei finde. Dir, Julie, habe ich jetzt zu antworten, denn ich weiß die scherzende Form der Kritik von dem Ernst, der in den Vorwürfen liegt, zu unterscheiden.
    Ich begreife nicht, wie ihr euch alle Beide über den Gegenstand meines Briefes so täuschen konntet. Nicht über die Franzosen habe ich Bemerkungen machen wollen; denn, wenn sich die verschiedenen Nationalcharaktere nur aus ihren Abweichungen von einander bestimmen lassen, wie konnte ich, der ich noch keine Nation weiter als diese eine kenne, deren Schilderung unternehmen? Auch würde ich nicht so ungeschickt gewesen sein, die Hauptstadt zum Orte meiner Beobachtungen zu wählen. Es ist mir nicht unbekannt, daß die Hauptstädte weniger von einander verschieden sind als die Völker, und daß sich in ihnen der Nationalcharakter größtentheils verwischt und verwirrt, sowohl in Folge des Einflusses, welchen die Höfe üben, die alle einander gleichen, als weil die Zusammendrängung zahlreicher Menschenmassen fast überall dieselben Erscheinungen hervorbringt und die ursprüngliche Eigenthümlichkeit des Volkes zuletzt gänzlich verdrängt.
    Wenn ich ein Volk studiren wollte, so würde ich die entlegenen Provinzen aufsuchen, deren Bewohner noch ihre natürlichen Neigungen und Gewohnheiten haben. Ich würde mehre dieser Provinzen, und zwar diejenigen, welche am weitesten auseinanderliegen, langsam und mit Aufmerksamkeit durchreisen; das Unterscheidende, welches ich in jeder derselben fände, würde mich zur Erkenntniß ihres besondern Geistes leiten; was sie mit einander gemein hätten, während es sich bei andern Völkern nicht findet, würde den Nationalgeist ausmachen, und das, was überall anzutreffen ist, dem Menschen im Allgemeinen angehören. Aber ich habe weder einen so umfassenden Plan, noch die nöthige Erfahrung, um ihn auszuführen. Mein Zweck ist, den Menschen kennen zu lernen, und meine Methode, ihn in den verschiedenen Lebensverhältnissen zu studiren. Ich habe ihn bisher nur in kleinen Vereinen, versprengt, fast vereinsamt auf der Erde gesehen; ich will ihn jetzt betrachten, wo Massen an demselben Orte zusammengeschichtet leben und ich werde demnach anfangen, mir mein Urtheil über die wahren Wirkungen des gesellschaftlichen Lebens zu bilden; denn wenn es feste Regel ist, daß dieses Leben die Menschen besser macht, so müssen sie, je zahlreicher und zusammengedrängter die Gesellschaft ist, desto mehr werth sein, und es werden z. B. die Sitten in Paris reiner sein als im Wallis; fände man aber das Gegentheil, so würde man den entgegengesetzten Schluß ziehen müssen.
    Diese Methode könnte mich, gebe ich zu, auch zur Kenntniß der Völker führen, aber auf einem so langen Umwege, daß ich vielleicht im ganzen Leben nicht dazu gelangen würde, mir über ein einiges ein Urtheil zu bilden. Ich müßte damit anfangen, bei dem ersten, unter welchem ich mich befinde, auf alles und jedes zu achten, müßte mir dann die Unterschiede merken, wenn ich in andere Länder komme, Frankreich mit jedem von ihnen vergleichen, wie man den Olivenbaum an einer Weide, oder die Palme an einer Tanne beschreibt, und mein Urtheil über das erste Volk, das ich beobachtet, ausschieben, bis ich alle übrigen gesehen hätte.
    Wolle darin auch hier wieder, liebenswürdige Predigerin, die philosophische Beobachtung von der Nationalsatyre unterscheiden! Nicht die Pariser studire ich, sondern die Menschen als Bewohner einer großen Stadt, und ich weiß nicht, ob nicht das, was ich gesehen habe, eben so gut auf Rom oder London als auf Paris paßt. Die sittlichen Gesetze sind unabhängig vom Volksbrauche; daher fühle ich, ungeachtet der herrschenden Vorurtheile, sehr gut, was schlecht an sich ist; aber ob man dieses Schlechte gerade den Franzosen oder den Menschen überhaupt beimessen soll, ob es Wert der Gewohnheit oder der Natur ist, weiß ich nicht. Das Bild der Lasterhaftigkeit ist an jedem Orte beleidigend für ein unparteiisches Auge, und rügt man sie in dem Lande, wo sie herrschend ist, auch wenn man selber da lebt, so ist das nicht tadelnswerther, als wenn man die

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