Julie oder Die neue Heloise
Aufmerksamkeit du seinen Gast betrachtet hast, und wie viel Vergnügen es dir macht, ihn zu beschreiben. Aber er könnte Aristoteles und Plato gefressen haben, ehe er wüßte, daß man seinen Liebsten ansieht, aber nicht betrachtet. Jede Betrachtung erfordert kaltes Blut, welches man dem Gegenstande seiner Liebe gegenüber nicht hat.
Endlich würde er sich einbilden, daß alle die Veränderungen, welche du bemerkt hast, einer Anderen entgangen sein würden: ich, ich habe vielmehr Furcht, noch einige zu entdecken, die dir entgangen sind. Wie anders dein Gast auch geworden sein mag, ja, hätte er sich auch noch mehr verändert, als der Fall ist, du würdest ihn, wenn dein Herz unverändert wäre, nicht verändert gefunden haben. Doch sei dem wieihm wolle, du wendest die Augen weg, wenn er dich ansieht: wieder ein sehr gutes Zeichen! Du wendest sie weg, Cousine. Du schlägst sie also nicht mehr nieder? Denn sicherlich hast du dir keine Verwechselung der Worte zu Schulden kommen lassen. Glaubst du, daß unser Weiser diese Bemerkung auch gemacht haben würde?
Noch Etwas, das auch sehr geeignet ist einem Ehemanne Unruhe zu machen, der Umstand, daß du im Reden von Dem, der dir theuer war, einen gewissen schmelzenden, weichen Ton anstimmst. Wenn man dich liest, wenn man dich reden hört, muß man dich wahrlich sehr genau kennen, um sich über dein Gefühl nicht zu täuschen; man muß wissen, daß du nur von einem Freunde redest, oder vielmehr, daß du von allen deinen Freunden so redest. Je nun, was dies betrifft, so ist es eine natürliche Wirkung deines Charakters, die dein Mann zu gut kennt, um sich dadurch beunruhigen zu lassen.
Wie sollte doch in einem so zärtlichen Herzen nicht auch die reine Freundschaft ein wenig von dem Aussehen der Liebe an sich haben? Höre, Cousine, Alles, was ich dir da sage, soll dir Muth einsprechen, aber nicht dich verwegen machen. Die Fortschritte, die du gemacht hast, sind merklich, und das ist schon viel. Ich rechnete nur auf deine Tugend und ich fange nun an, auch auf deine Vernunft zu rechnen; ich sehe deine Wiederherstellung jetzt, wenn nicht als vollendet, doch wenigstens als leicht zu vollenden an, und du hast nachgerade so viel gethan, daß es nicht zu entschuldigen wäre, wenn du nicht das Uebrige thätest.
Schon ehe ich an deine Nachschrift kam, hatte ich die Stelle bemerkt, welche du in deiner Ehrlichkeit nicht hast unterdrücken oder ändern wollen, wenn du auch daran dachtest, daß dein Mann sie sehen würde. Ich bin überzeugt, daß sich, wenn er sie gelesen hatte, seine Hochachtung für dich wo möglich noch gesteigert hätte; aber nichtsdestoweniger würde ihm die Stelle nicht behagt haben. Im Allgemeinen war dein Brief sehr geeignet, ihm viel Vertrauen zu deinem Betragen einzuflößen und viel Besorgniß über deinen Hang. Ich gestehe dir, daß diese Pockennarben, die du soviel ansiehst, mir Furcht machen, und fürwahr, die Liebe selbst hat sich nimmer eine gefährlichere Schminke ausgedacht. Ich weiß wohl, für eine Andere wäre das ein Nichts; aber Cousine, vergiß mir ja nicht, daß Die, welche Jugend und Schönheit eines Geliebten nicht hatten verführen können, verloren war bei dem Gedanken an die Leiden, welche er ihretwegen erduldet hatte. Ohne Zweifel hat der Himmel gewollt, daß ihm Spuren von jener Krankheit übrigblieben, um deine Tugend, und dir keine, um die seinige zu üben.
Ich komme wieder auf den Hauptgegenstand des Briefes zurück. Du weißt, daß ich, nach Empfang des Schreibens von unserem Freunde, Flügel hatte; der Fall war ernster Natur. Aber jetzt, wenn du wüßtest, in was für Verlegenheiten mich die kurze Abwesenheit verwickelt hat, und wie sich meine Geschäfte nun gehäuft haben, so würdest du einsehen, daß es mir unmöglich ist, mein Haus in diesem Augenblicke zu verlassen, wenn ich mir nicht neue Schwierigkeiten bereiten, und mich in die Nothwendigkeit versetzen will, auch noch den Winter hier zu bleiben, womit weder mir, noch dir gedient sein würde. Ist es nicht besser, daß wir uns das Vergnügen versagen, uns zwei oder drei Tage flüchtig zu sehen, um sechs Monate eher bei einander sein zu können? Ich denke auch, es wird nicht unnütz sein, daß ich unseren Philosophen allein und ein wenig bei Muße spreche, sei es, um sein Herz zu sondiren und fest zu machen, oder auch, um ihm einige nützliche Rathschläge zu geben, wie er sich mit deinem Manne und selbst mit dir benehmen müsse; denn ich kann mir nicht denken, daß du mit ihm
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