Julie oder Die neue Heloise
ist, denke ich, eine Betrachtung, die für dich nicht passen würde, die er sich aber im Grunde erlauben kann. Er hat gleichsam die Laufbahn seiner alten Liebschaft noch einmal durchmessen; seine frühere Jugend hat sich in unseren Gesprächen abermals vor ihm aufgerollt; er machte mich zum zweiten Male zur Vertrauten aller seiner Herzensangelegenheiten; er rief sich jene glückliche Zeit zurück, wo es ihm vergönnt war, dich zu lieben: er führte mir vor die Seele das reizende Bild einer unschuldigen Flamme .... Ohne Zweifel hat er es verschönert.
Er hat von seinem gegenwärtigen Zustande, in Bezug zu dir, wenig mit mir gesprochen, und was er mir in dieser Hinsicht sagte, hatte mehr von Achtung und Bewunderung, als von Liebe an sich: so sehe ich ihn denn weit beruhigter über sein eigenes Herz zurückkehren, als er hergekommen ist. Wohl nimmt man wahr, daß sich, sobald von dir die Rede ist, in diesem zu empfindsamen Herzen eine gewisse Wehmuth regt, der jedoch, nicht minder rührend, die Freundschaft, die jetzt allein darin herrschen darf, eine andere Farbe giebt: aber ich habe seit langer Zeit bemerkt, daß Niemand dich sehen oder an dich denken kann und kaltblütig bleiben, und wenn man zu dem allgemeinen Gefühle, welches dein Anblick erweckt, das süßere Gefühl hinzurechnet, welches ein unauslöschliches Andenken in ihm rege erhalten muß, so wird man finden, daß es auch bei der strengsten und reinsten Tugend schwer, vielleicht unmöglich für ihn sein muß, anders zu sein, als er ist. Ich habe ihn ausgeforscht, bin ihm aufmerksam gefolgt, habe ihn so genau beobachtet, als es mir möglich war: ich vermag nicht deutlich in seiner Seele zu lesen, vermag er es selbst doch nicht besser; aber dafür kann ich wenigstens einstehen, daß er das Gewicht deiner und seiner Pflichten vollkommen fühlt, und daß der Gedanke an Julie, als ein verächtliches und verderbtes Geschöpf, ihm nicht minder grauenvoll sein würde, als der Gedanke an seine eigene Vernichtung. Cousine, ich habe dir nur einen Rath zu geben, den bitte ich dich zu beachten: vermeide es, dich aus die Vergangenheit im Einzelnen einzulassen, und ich stehe dir für die Zukunft.
Was die Auslieferung betrifft, die du gewünscht hast, so ist daran nicht zu denken. Nachdem ich alle ersinnlichen Gründe erschöpft hatte, habe ich ihn gebeten, ihm zugesetzt, ihn beschworen, ihn gescholten, ihn geküßt, ihn bei beiden Händen genommen, ja, hätte mich ihm zu Füßen geworfen, wenn er es zugelassen hätte; aber er hat mich nicht einmal anhören wollen, er ist in seinem Eigensinn und Zorn so weit gegangen, daß er schwor, er würde lieber darein willigen, dich nie mehr wiederzusehen, als sich dein Porträt nehmen zu lassen. Endlich, von Unwillen hingerissen, ließ er es mich auf seinem Herzen fühlen; da ist es, sagte er mit so bewegtem Tone, daß er kaum Athem hatte. Da ist dieses Bildniß, das einzige Gut, das mir noch geblieben ist, und das man mir nun auch mißgönnt. Seien Sie überzeugt, daß man es mir nur mit meinem Leben entreißen wird. Laß uns klug sein, Cousine, folge mir, und ihm das Porträt lassen. Was liegt im Grunde daran, wenn er es behält? Desto schlimmer für ihn, wenn er so eigensinnig darauf beharrt, es zu behalten.
Nachdem er sein Herz recht ausgeschüttet und erleichtert hatte, schien er wieder ruhig genug, daß man über seine Angelegenheiten mit ihm reden konnte. Ich fand, daß Zeit und Ueberlegung ihn in seinen früheren Absichten nicht wankend gemacht hatten, und daß er seinen Ehrgeiz noch darauf beschränkt, sich Milord Eduard für immer anzuschließen. Ich konnte ein so ehrenwerthes, seinem Charakter angemessenes und der Erkenntlichkeit, die er jenem für beispiellose Wohlthaten schuldig ist, so entsprechendes Vorhaben nur billigen. Er hat mir gesagt, daß du derselben Ansicht wärest, daß aber Herr von Wolmar zu der Sache still geschwiegen hätte. Da ist mir nun ein Gedanke gekommen: das etwas seltsame Benehmen deines Mannes, im Vereine mit andern Anzeichen, bringt mich auf die Vermuthung, daß er im Stillen irgend eine Absicht mit unserm Freunde hat, die er noch nicht sagen will. Lassen wir ihn machen, und vertrauen wir seiner Einsicht und Klugheit. Sein ganzes Verhalten beweist hinlänglich, daß er, wenn anders meine Vermuthung richtig ist, nur etwas vor hat, das zum Vortheil Dessen, dem er so große Theilnahme schenkt, gereichen soll.
Du hast sein Aussehen und seine Manieren nicht übel beschrieben, und es ist ein ganz
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