Julie oder Die neue Heloise
Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.
Wie viele Freuden, die ich zu spät kennen lerne, schmecke ich seit drei Wochen! Ach, es ist süß, seine Tage im Schoße einer stillen Freundschaft, geschützt vor den Stürmen der Leidenschaften hinzubringen! Milord, was für ein angenehmes, rührendes Schauspiel gewährt ein einfacher, wohlgeordneter Hausstand, in welchem Ordnung, Friede und Unschuld herrschen, wo man ohne Prunk, ohne Glanz Alles vereinigt sieht, was der wahren Bestimmung des Menschen entspricht! Die ländliche Umgebung, die Zurückgezogenheit, die Ruhe, die Jahreszeit, die weite Wasserfläche, die vor meinen Augen liegt, Alles erinnert mich hier an meine köstliche Insel Tinian. Ich glaube die heißen Wünsche erfüllt zu sehen, welche dort so oft in mir aufstiegen. Ich führe hier ein Leben nach meinem Geschmack, finde einen Umgang nach meinem Herzen. Nichts fehlt an diesem Orte, als zwei Personen, damit meinGlück vollständig sei, und diese, habe ich Hoffnung, bald hier zu sehen.
Einstweilen, bis Sie und Frau v. Orbe kommen, und den süßen und reinen Freuden, die ich hier empfinden lerne, die Krone aufsetzen, will ich Ihnen eine häusliche Einrichtung beschreiben, welche zu erkennen giebt, wie glücklich die Herren des Hauses sind, und welche diejenigen, die es mit ihnen bewohnen, zu Theilnehmern ihres Glückes macht. Bei dem Plane, mit welchem Sie umgehen, hoffe ich, daß meine Betrachtungen für die Folge von Nutzen sein können, und diese Hoffnung macht mir noch mehr Lust, sie anzustellen.
Ich will Ihnen das Haus von Clarens nicht beschreiben: Sie kennen es, Sie wissen, wie reizend es ist, was für anziehende Erinnerungen es in mir weckt, wie theuer es mir sein muß, sowohl wegen dessen, was ich gegenwärtig darin sehe, als wegen dessen, woran es mich mahnt. Frau v. Wolmar ist mit Recht lieber hier als in Étange, wo das Schloß zwar prächtig und groß, aber alt, traurig, unbequem ist und keine Umgebungen hat, welche sich mit denen von Clarens vergleichen ließen.
Seit die Besitzer dieses Hauses ihre Wohnung in demselben aufgeschlagen haben, ist Alles, was darin nur auf Zierde angelegt war, nützlichen Zwecken dienstbar gemacht worden; es ist nicht mehr ein Haus zum Besehen, sondern zum Bewohnen. Sie haben lange Zimmerreihen abgesperrt, um unbequem angebrachte Thüren zu verlegen; sie haben zu große Räume getheilt, um wohnlichere Gemächer zu gewinnen; altmodische und prächtige Meubles haben sie mit einfacheren und bequemeren vertauscht. Alles ist hier anmuthig und freundlich, Alles athmet Fülle und Sauberkeit, nirgends spürt man Ueberfluß und Pracht; es ist kein Zimmer da, wo man nicht merkte, daß man auf dem Lande ist, und wo man nicht doch alle Bequemlichkeiten der Stadt fände. Außen sind die vorgenommenen Veränderungen ebenso zu spüren: der Hof ist durch Wegnahme von Remisen vergrößert worden. An die Stelle eines alten verfallenen Billards ist eine schöne Kelter getreten, und wo schreiende Pfauen wohnten, die man abgeschafft hat, sieht man eine Milchkammer. Der Küchengarten war zu klein für den Hausbedarf; es ist daher aus dem Blumenparterre ein zweiter gemacht worden, der aber so nett und sinnig angelegt ist, daß das umgeschaffene Parterre besser in's Auge fällt, als in seiner früheren Gestalt. Anstatt der traurigen Eiben, welche die Mauern bedeckten, sind schöne Spaliere angebracht worden. Wo die unnütze Roßkastanie stand, fangen junge, schwarze Maulbeerbäume an, den Hof zu beschatten, und statt der alten Linden, welche den Zugang zum Hause einfaßten, sind zwei Reihen Nußbäume bis zur Landstraße gepflanzt. Ueberall ist das Nützliche an die Stelle des Angenehmen gesetzt worden, und die Annehmlichkeit hat fast immer dabei gewonnen. Ich wenigstens finde, daß das Geräusch des Hofes, das Geschrei der Hähne, das Brüllen des Rindviehes, das Anspannen der Wagen, die Mahlzeiten im Freien, das Heimkommen der Arbeiter und das ganze wirthschaftliche Treiben diesem Hause einen ländlicheren, lebendigeren, heitereren, frischeren Anstrich giebt, etwas Fröhliches und Behagliches, das es zuvor in seiner düstern Würde nicht hatte.
Sie haben ihr Land nicht verpachtet, sondern bewirthschaften es selbst, und durch dieses Wirthschaften gewinnen sie den größten Theil ihrer Beschäftigungen, Einkünfte und Vergnügungen. Die Baronie Étange hat nur Wiesen, Felder und Waldungen; der Ertrag von Clarens aber besteht in Wein von nicht geringem Belange, und da der Unterschied der
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