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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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nämlichen Freuden und Leiden haben; und gleich jenen Magneten, von denen Sie mir sagten, die, wie es heißt, an verschiedenen Orten dieselben Bewegungen machen, werden wir an den beiden Enden der Welt die gleichen Gefühle haben.
    Machen Sie sich also von der Hoffnung los, wenn Sie sie jemals hegten, sich ein ausschließliches Glück zu bereiten und es auf Kosten des meinigen zu erkaufen. Hoffen Sie nicht, daß Sie glücklich sein könnten, wenn ich entehrt wäre, noch daß Sie mit zufriedenem Auge meine Schmach und meine Thränen ansehen könnten. Glauben Sie mir, mein Freund, ich kenne Ihr Herz weit besser, als Sie es selbst kennen. Eine so zärtliche, so wahre Liebe muß den Begierden gebieten können; Sie sind zu weit gegangen, um bis ans Ende zu gehen, ohne sich zu Grunde zu richten, und Sie können mein Unglück nicht mehr steigern, ohne sich selbst unglücklich zu machen.
    Ich wollte, daß Sie fühlen könnten, wie wichtig es für uns beide ist, daß Sie sich wegen der Sorge für unser gemeinsames Loos auf mich verlassen, Zweifeln Sie, daß Sie mir ebenso theuer sind als mein eigenes Ich? Und glauben Sie, daß für mich ein Glück denkbar ist, welches Sie nicht theilen? Nein, mein Freund, ich habe einerlei Interessen mit Ihnen und ein wenig mehr Ueberlegung, um dieselben wahrzunehmen. Ich räume ein, daß ich die Jüngere bin; aber haben Sie nie bemerkt, daß die Vernunft bei den Frauen, wenn sie auch gewöhnlich schwächer ist und eher erlischt, sich doch auch früher entwickelt, gerade wie eine schwanke Sonnenblume rascher wächst und wieder vergeht als eine Eiche? Wir finden uns von frühester Jugend an mit einem so gefährlichen Pfande betraut, daß die Sorge, es zu hütend unsere Urtheilskraft frühe erweckt; und es ist ein treffliches Mittel, die Folgen der Dinge wohl ins Auge fassen zu lernen, wenn man alle Gefahren, denen sie uns aussetzen, lebhaft fühlt. Ich für mein Theil finde, je mehr ich mich mit unserer Lage beschäftige, desto mehr, daß die Vernunft von Ihnen dasselbe fordert, was ich von Ihnen im Namen der Liebe fordere. Folgen Sie also willig ihrer sanften Stimme und lassen Sie sich leiten, ach! von einem andern Blinden, der aber wenigstens einen Stab hat.
    Ich weiß nicht, mein Freund, ob unsere Herzen das Glück haben werden, sich zu verstehen, und ob Sie beim Lesen dieses Briefes die zärtliche Stimmung theilen werden, welche ihn eingegeben hat; ich weiß nicht, ob wir jemals in der Art die Dinge zu betrachten eben so wie in unserer Art zu fühlen übereinstimmen werden; aber das weiß ich, daß die Meinung desjenigen Theiles, der am wenigsten sein Glück von dem Glücke des andern trennt, die Meinung ist, welche den Vorzug verdient.
     
Zwölfter Brief.
An Julie.
    Meine Julie, wie rührend ist die Einfalt Ihres Briefes! wie sehr erblicke ich darin den heiteren Muth einer unschuldigen Seele und die zärtliche Besorgtheit der Liebe! Ihre Gedanken schwingen sich ohne Kunst und ohne Mühe empor; sie machen einen köstlichen Eindruck auf das Herz, den ein berechneter Styl nicht hervorbringt. Sie tragen unwiderlegliche Gründe mit so unschuldiger Miene vor, daß man darüber erst nachdenken muß, um ihre Gewalt zu fühlen, und die erhabenen Gefühle kosten Ihnen so wenig Anstrengung, daß man versucht ist, sie für Aeußerungen einer ganz gewöhnlichen Denkungsart zu nehmen. Ach ja gewiß, Ihnen gebührt es, unsere Bestimmung zu regeln; das ist nicht ein Recht, welches ich Ihnen einräume, sondern eine Pflicht, die ich von Ihnen fordere; es ist eine Gerechtigkeit, die ich von Ihnen erwarte; und Ihre Vernunft muß mich für den Raub entschädigen, welchen Sie an der meinigen begangen haben. Von diesem Augenblick an lege ich in Ihre Hände für mein ganzes Leben die Herrschaft über meinen Willen: verfügen Sie über mich wie über einen Menschen, der nichts mehr für sich selbst ist und dessen ganzes Wesen nur in Bezug zu Ihnen steht. Ich werde, zweifeln Sie nicht, das Gelübde halten, das ich Ihnen ablege, was Sie mir auch vorschreiben mögen. Entweder werde ich dadurch mehr werth sein, oder Sie werden wenigstens glücklicher sein, und in jedem Falle werde ich von meinem Gehorsam sicheren Gewinn haben. Ich übergebe Ihnen also ohne Vorbehalt die Sorge für unser Beider Glück: schaffen Sie das Ihrige und es ist Alles gethan. Was mich betrifft, der ich weder einen Augenblick Sie aus den Gedanken verlieren, noch an Sie denken kann ohne eine Heftigkeit des Gefühls, die allerdings besiegt

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