Julie oder Die neue Heloise
hat, in Ruhe genießen! Die Reize der Herzensgemeinschaft vereinigen sich uns mit denen der Unschuld; keine Furcht, keine Schande stört unser Glück; im Schoße aller Liebeswonne können wir von der Tugend sprechen, ohne zu erröthen,
E v' è il piacer con l'onestade accanto. [Und die Luft ist mit der Sittsamkeit im Bunde".]
Ich weiß nicht, welche bange Ahnung in mir aufsteigt und mir zuruft, daß wir jetzt der einzigen glücklichen Zeit genießen, welche uns der Himmel bestimmt hat. Ich sehe in der Zukunft nichts als Trennung, Stürme, Unruhe, Widersprüche: die kleinste Aenderung unserer gegenwärtigen Lage scheint mir nur ein Unglück sein zu können. Nein, wennein noch süßeres Band uns je vereinigte, so weiß ich nicht, ob das Uebermaß des Glückes nicht bald dessen Untergang sein würde. Der Augenblick des Besitzes ist ein Wendepunkt in der Liebe und jeder Wechsel droht der unsrigen Gefahr; wir können dabei immer nur verlieren. Ich beschwöre dich, mein theurer, einziger Freund, suche die Trunkenheit der eiteln Wünsche zu bemeistern, denen immer Leidwesen, Reue, Trübsal auf dem Fuße folgt. Laß uns in Frieden unser gegenwärtiges Glück genießen. Es macht dir Freude, mir Unterricht zu geben, und du weißt, wie gern ich diese Stunden habe. Wir wollen sie noch vermehren; wollen nicht öfter von einander getrennt sein, als der Wohlstand erfordert; laß uns die Augenblicke, in denen wir nicht bei einander sein können, benutzen, um uns zu schreiben, und die kostbare Zeit auskaufen, nach der wir vielleicht eines Tages seufzen werden. Ach! wenn doch unser Loos so, wie es jetzt ist, dauern könnte, so lang als unser Leben dauert! Der Geist bildet sich, der Verstand klärt sich auf, die Seele kräftigt sich, das Herz genießt: was fehlt uns zu unserem Glückt?
Zehnter Brief.
An Julie.
Wie Recht haben Sie, meine Julie, wenn Sie sagen, daß ich Sie noch nicht kenne! Immer glaube ich, alle Schätze Ihrer schönen Seele schon zu erkennen, und immer entdecke ich neue. Welches Weib hat je wie Sie Zärtlichkeit und Tugend so mit einander vereint und, die eine durch die andere mildernd, beide reizender gemacht? Ich finde etwas unsäglich Liebenswürdiges, Gewinnendes in dieser Verständigkeit, die mich zur Verzweiflung treibt, und Sie schmücken mit so unendlicher Anmuth die Entbehrungen, welche Sie mir auflegen, daß Sie sie mir fast lieb machen.
Ich fühle es jeden Tag mehr, das größte der Güter ist, von Ihnen geliebt zu sein; es giebt keines, kann keines geben, das diesem gleich käme; und wenn ich die Wahl hätte zwischen Ihrem Herzen und Ihrem Besitze selbst, nein, reizende Julie, ich würde mich keinen Augenblick bedenken. Aber woher käme dieses bittere Entweder Oder, und warum müssen wir als unverträglich ansehen, was die Natur hat vereinigen wollen? Die Zeit ist kostbar, sagen Sie, trachten wir, sie zu genießen, wie sie ist, und hüten wir uns, durch Ungeduld ihren friedlichen Lauf zu stören. Ei, möge sie doch vorübergehen und glücklich sein! Mußman denn, um ein liebliches Loos zu schmecken, das, was noch schöner ist, aus den Augen lassen, und die Ruhe dem höchsten Glücke vorziehen? Ist nicht alle Zeit verloren, die man besser anwenden könnte? Ach! wenn man tausend Jahre in Einer Viertelstunde leben kann, wozu dann trübselig die Tage zählen, die man gelebt haben wird?
Alles, was Sie von dem Glücke unserer gegenwärtigen Lage sagen, ist unbestreitbar; ich fühle, daß wir glücklich sein sollten, und dennoch bin ich es nicht. Die Vernunft hat durch Ihren Mund gut reden, die Stimme der Natur ist die stärkere. Sagen Sie, wie soll man ihr widerstehen, wenn sie mit der Stimme des Herzens Eins ist? Außer Ihnen und Ihnen allein sehe ich nichts auf dieser Erde, was würdig wäre, meine Seele und meine Sinne zu beschäftigen; nein! ohne Sie ist die Natur mir nichts mehr; aber ihre Gewalt ist in Ihren Augen und da, da ist sie unüberwindlich.
Mit Ihnen ist es anders, himmlische Julie; Sie begnügen sich, unsere Sinne zu reizen, und leben nicht im Kriege mit den ihrigen. Es scheint, daß menschliche Leidenschaften etwas zu Niedriges sind für eine so erhabene Seele, und wie Sie engelschön sind, sind Sie engelrein. O Reinheit, die ich murrend verehre! warum kann ich nicht entweder Sie herabziehen oder mich bis zu Ihnen erheben! Aber nein, ich werde mich stets im Staube winden und Sie, Sie stets im Himmel strahlen sehen. Ach! sein Sie glücklich auf Kosten meiner Ruhe; genießen Sie Ihrer
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