Julie oder Die neue Heloise
sterben.
Ich gestehe, daß es Manche giebt, denen diese Methode sehr schädlich sein würde, und denen es nöthig ist, viel zu lesen und wenig nachzudenken, weil sie wenig eigene Fähigkeit besitzen und beim Sammelnnicht zu so schlechtem Zeuge gelangen, als sie selbst an den Tag bringen würden. Ihnen empfehle ich gerade das Gegentheil, denn Sie tragen Besseres in das hinein, was Sie lesen, als was Sie darin finden, und Ihr thätiger Geist bildet aus dem Buche ein neues Buch, oft von größerem Werthe als das ursprüngliche. Wir werden uns also unsere Gedanken mittheilen; ich werde Ihnen sagen, was Andere gedacht haben, Sie werden mir sagen, was Sie selbst über den nämlichen Gegenstand denken, und ich werde oft in der Stunde mehr lernen als Sie.
Je weniger Sie lesen sollen, desto sorgfältiger muß die Auswahl sein; hören Sie die Gründe, welche mich bei derselben geleitet haben! Der Hauptirrthum Derer, welche studiren, ist, wie gesagt, daß sie sich zu sehr ihren Büchern hingeben und nicht genug aus sich selbst schöpfen, wobei sie nicht bedenken, daß von allen Sophisten doch unsere eigene Vernunft fast immer derjenige ist, welcher uns am wenigsten betrügt. Sobald man nur in sich gehen will, fühlt Jeder sogleich, was gut ist, empfindet, was schön ist; wir brauchen Beides gar nicht erst von Anderen zu lernen, und man täuscht sich darüber nur, insoweit man sich täuschen will. Jedoch die Beispiele des vorzüglich Guten und Schönen sind seltener und weniger bekannt; die müssen wir fern von uns aufsuchen. Die Eitelkeit, welche das natürliche Vermögen nach unserer Schwäche mißt, spiegelt uns vor, daß die Eigenschaften, welche wir selbst nicht besitzen, eitle Träume sind; die Trägheit und der Hang zum Laster berufen sich auf die, vorgebliche Unerreichbarkeit, und was man nicht überall und immer sieht, das, macht der schwache Mensch sich selber weiß, ist gar nicht anzutreffen. Diesen Irrthum gilt es zu zerstören; das wahrhaft Große muß man sich gewöhnen zu empfinden und vor Augen zu haben, damit man sich jeden Vorwand benehme, es nicht nachzuahmen. Die Seele wird gehoben, das Herz entstammt bei der Betrachtung dieser göttlichen Vorbilder; je mehr man sie anschaut, desto mehr trachtet man, ihnen ähnlich zu werden, und man kann nichts Mittelmäßiges mehr ohne tödtlichen Widerwillen sehen.
Suchen wir also nicht in den Büchern Grundsätze und Regeln, die wir sicherer in uns selbst finden. Lassen wir alle jene nichtigen Streitigkeiten der Philosophen über das Glück und die Tugend; nutzen wir, um uns gut und glücklich zu machen, die Zeit, welche sie mit der Untersuchung, worin Beides bestehe, verlieren, und halten wir uns lieber große Beispiele zur Nachahmung, als hohle Systeme zur Befolgung vor.
Ich habe immer geglaubt, daß das Gute nichts Anderes ist als das Schöne in Handlung gesetzt, daß das Eine eng mit dem Andern zusammenhängt und daß sie beide in der wohl geordneten Natur ihre gemeinschaftliche Quelle haben. Es folgt aus diesem Gedanken, daß sich der Geschmack durch dieselben Mittel vervollkommnet wie die Weisheit, und daß eine Seele, welche von den Reizen der Tugenden recht eingenommen ist, auch nach Verhältniß für jede andere Art von Schönheit empfänglich sein muß. Man übt sich im Sehen wie im Fühlen, oder vielmehr ein gebildetes Auge ist nichts weiter als ein feines und zart entwickeltes Gefühl. So begeistert sich ein Maler beim Anblick einer schönen Landschaft oder vor einem schönen Gemälde an Gegenständen, welche ein gewöhnlicher Zuschauer nicht einmal bemerkt. Wie viele Dinge giebt es nicht, die man nur mit dem Gefühle wahrnimmt und über welche es unmöglich ist Rechenschaft zu geben! Wie viel Unsagbares stößt uns immerfort auf, worüber der Geschmack entscheidet! Der Geschmack ist im gewissem Maße das Mikroskop der Urtheilskraft; er ist es, der ihr das Kleinste erreichbar macht, und seine Wirksamkeit beginnt, wo die ihrige aufhörte. Was ist also nöthig, um ihn zu bilden? Nichts als daß man sich übe zu sehen wie zu fühlen und das Schöne mittelst der Anschauung wie das Gute mittelst des Gefühls zu beurtheilen. O, ich behaupte, daß nicht einmal das allen Herzen gegeben ist, beim ersten Anblick Juliens bewegt zu werden.
Deshalb nun, meine reizende Schülerin, beschränke ich alle Ihre Studien auf Bücher, die den Geschmack und die Sitten bilden; deshalb, meine ganze Methode auf das Beispiel richtend, gebe ich Ihnen keine andere Erläuterung der
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