Julie oder Die neue Heloise
Herzen zu lesen; möge der Himmel sie ihm immer erhalten! Bei so viel Ursache mich zu verachten, ist es ohne Zweifel nur diese Kunst, der ich seine Nachsicht verdanke.
Du siehst bis hierher noch keinen Rath zu geben; Geduld, mein Engel, wir sind schon zur Stelle; aber das Gespräch, das ich dir eben mitgetheilt habe, war nöthig um das Uebrige zu verstehen.
Auf dem Rückwege sagte mir mein Mann, der in Étange schon lange erwartet wird, daß er dorthin zu gehen gedächte, dich im Vorbeigehen besuchen und fünf oder sechs Tage wegbleiben würde. Ohne Alles zu sagen, was mir eine so unzeitige Abreise zu denken gab, stellte ich ihm nur vor, daß sie nicht so unerläßlich wäre, um ihn zu nöthigen, einen Gast, den er selbst in's Haus gerufen, zu verlassen. Wollen Sie denn, antwortete er, daß ich ihm Honneurs mache, um ihn zu erinnern, daß er nicht bei sich, zu Hause ist? Ich bin für die Gastlichkeit der Walliser. Ich hoffe, er wird deren Treuherzigkeit auch hier finden, und uns ihre Freiheit gönnen. Da ich sah, daß er mir kein Gehör geben wollte, nahm ich eine andere Wendung und suchte unsern Gast zu veranlassen, daß er die Reise mit ihm machte. Sie werden einen Ort finden, sagte ich zu ihm, der seine Schönheiten hat, und sogar solche, wie Sie sie lieben. Sie werden meiner Väter und mein Erbgut besuchen; der Antheil, den Sie an mir nehmen, läßt mich nicht glauben, daß es Ihnen gleichgültig sein könnte, es zu sehen. Ich hatte schon den Mund offen, um hinzuzusetzen, daß dieses Schloß dem von Milord Eduard gleiche, welches .... aber glücklicher Weise hatte ich Zeit, mir auf die Zunge zu beißen. Er antwortete mir ganz einfach, ich hätte Recht, und er würde thun, was mir gefiele. Aber Herr von Wolmar, der mich aufs Aeußerste treiben zu wollen schien, versetzte, er sollte doch thun, was ihm selber gefiele. Was ziehen Sie vor, mitzukommen oder zu bleiben? Zu bleiben, antwortete er, ohne sich zu besinnen. Nun gut, so bleiben Sie, entgegnete mein Mann, indem er ihm die Hand drückte. Redlicher und wahrer Mensch, ich bin sehr zufrieden mit diesem Worte. Es ließ sich darüber vor dem Dritten, der uns hörte, nicht viel mit ihm wortwechseln. Ich schwieg. konnte aber meinen Verdruß nicht so verbergen, daß ihn mein Mann nicht bemerkt hätte. Wie! rief er mit unzufriedener Miene in einem Augenblicke, da Saint-Preux von uns entfernt war, hätte ich denn vergeblich Ihre Sache gegen Sie selbst geführt? Und will sich Frau von Wolmar mit einer Tugend begnügen, die es nöthig hat, sich ihre Gelegenheiten auszusuchen? Ich für meinen Theil bin schwieriger; ich will die Treue meiner Frau ihrem Herzen und nicht dem Zufalle verdanken, und es genügt mir nicht, daß sie mir treu bleibt, es kränkt mich, daß sie an sich zweifelt.
Hierauf führte er uns in sein Cabinet, wo ich aus den Wolken zu fallen glaubte, als ich ihn aus einer Schublade nebst den Abschriften von einigen Berichten unseres Freundes, die ich ihm gegeben hatte, die Originale aller der Briefe hervorziehen sah, die ich, wie ich mir einbildete, Babi ehemals in dem Zimmer meiner Mutter hatte verbrennen sehen. Hierauf, sagte er, indem er sie uns wies, gründet sich meine Sicherheit; tröge mich diese, so wäre es eine Narrheit, auf irgend Etwas zu bauen, was von Menschen geachtet wird. Ich gebe meine Frau und meine Ehre Der in Verwahrung, die, als Mädchen und verführt, eine Handlung der Wohlthätigkeit einem sicheren und vielleicht nicht zu ersetzenden Stelldichein vorzog; ich vertraue Julie, die Gattin und Mutter, Dem, der, da es ihm freistand, seine Wünsche zu befriedigen, es über sich vermochte, Julien, der Geliebten und Jungfrau ihre Ehre zu lassen. Wer von euch Beiden sich genug verachtet, um zu denken, daß ich Unrecht habe, der sage es, und ich nehme augenblicklich mein Wort zurück. Cousine, sage, konnte man sich leicht erkühnen, auf solche Sprache Etwas zu entgegnen?
Ich suchte jedoch am Nachmittage einen Augenblick, um meinen Mann allein zu nehmen, und ohne mich in Erörterungen einzulassen, in denen ich doch nicht sehr weit hätte gehen können, beschränkte ich mich darauf, ihn um zwei Tage Aufschub zu bitten; sie wurden mir auf der Stelle bewilligt. Ich benutze sie, um dir diesen Expressen zu schicken und deine Antwort zu erwarten, damit ich von dir höre, was ich thun soll.
Ich weiß wohl, daß ich meinen Mann nur zu bitten brauchte, gar nicht abzureisen; er, der mir nie etwas abgeschlagen hat, wird mir eine so kleine Gunst nicht
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