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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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vielleicht ein Stück von der eignen Jagd der Leute vom Hause: solcherlei und nichts Anderes ist das Außergewöhnliche, das hier vorkommt, das, womit man den Tisch belädt und ziert, was unsern Appetit an Freudentagen reizt und stillt. Das Tischgeräth ist bescheiden und ländlich, aber blank und sauber; Anmuth und Frohsinn herrschen bei dem Mahle, Heiterkeit und Hunger würzen es. Vergoldete Aufsätze, bei denen man Hungers stirbt, prächtige Krystallvasen mit Blumen vollgestopft, statt Deserts, füllen nie den für Speisen bestimmten Raum aus; man versteht die Kunst nicht, den Magen durch die Augen zu befriedigen, wohl aber die, einer guten Kost noch Reiz hinzuzufügen, tüchtig zu essen, ohne sich zu überladen, fröhlich zu trinken, ohne sich die Vernunft zu rauben, lange zu tafeln, ohne sich zu langweilen, und immer ohne Ekel vom Tische aufzustehen.
    Außer dem gewöhnlichen Speisezimmer, welches im Erdgeschoß liegt, ist noch ein kleiner Speisesaal im ersten Stock vorhanden. DieserPrivatspeisesaal liegt an der Ecke des Hauses und erhält sein Licht von zwei Seiten; auf der einen hat man die Aussicht auf den Garten, und zwischen den Bäumen hindurch auf den See, auf der andern auf die Rebhügel, die schon anfangen, die Schätze zur Schau zu stellen, die man in zwei Monaten auf ihnen ernten wird. Der Saal ist klein, aber geschmückt mit Allem, was ihn angenehm und freundlich machen kann. In ihm giebt Julie ihre kleinen Feste, ihrem Vater, ihrem Manne, ihrer Cousine, mir, sich und manchmal ihren Kindern. Wenn iie dort zu decken befiehlt, so weiß man schon, was das sagen will, und Herr von Wolmar nennt ihn scherzhaft den Apollosaal. Aber von jenem des Lucullus unterscheidet ihn nicht weniger die Wahl der Tischgenossen, als die der Speisen. Bloße Gäste werden in ihm nicht bewirthet; es wird nie da gegessen, wenn man Fremde hat; es ist die heilige Freistatt des Vertrauens, der Freundschaft, der Freiheit; durch die Herzensgemeinschaft ist an diesem Orte die Tischgemeinschaft bedingt; die Zulassung zu ihm ist gewissermaßen eine Einweihung in die Geheimnisse der Traulichkeit, und nur Personen versammeln sich dort, die sich nie mehr von einander trennen möchten. Milord, die Festlichkeit erwartet Sie, und in diesem Saale werden Sie hier Ihre erste Mahlzeit halten.
    Ich hatte nicht gleich anfangs diese Ehre; erst als ich von Frau von Orbe zurückkam, wurde ich im Apollosaal bewirthet. Ich hatte mir eingebildet, daß nach dem ersten Empfange, den ich gefunden hatte, nichts noch Verbindlicheres stattfinden konnte, aber dieses Abendessen hat mich eines Andern belehrt: ich fand dabei eine unbeschreiblich köstliche Mischung von Traulichkeit, Freude, Seelengemeinschaft, Wohlbehagen, wie ich es noch nie gefunden hatte. Ich fühlte mich zwangloser, ohne daß es dazu einer Aufforderung bedurft hätte: es war mir, als verständen wir uns besser, als zuvor. Die Abwesenheit der Bedienten lud ein, nichts mehr im Herzen verschlossen zu halten; auch fing ich auf Juliens Bitte wieder an, was ich seit so vielen Jahren nicht gethan hatte, mit meinen Wirthen nach der Mahlzeit unvermischten Wein zu trinken.
    Dieses Abendessen war bezaubernd; ich hätte gewünscht, daß alle unsere Mahlzeiten in derselben Weise stattgefunden hätten. Von diesem allerliebsten Saal, sagte ich zu Frau von Wolmar, wußte ich noch nichts: warum essen Sie nicht immer darin? — Sehen Sie, gab sie zur Antwort, er ist so hübsch! Wäre es nicht schade, ihn zu verderben?
    Diese Antwort schien mit zu wenig ihrem Charakter entsprechend, um mich nicht einen verborgenen Sinn vermuthen zu lassen. Warum haben Sie nicht wenigstens immer, fuhr ich fort, dieselben Bequemlichkeiten zusammen, wie hier, damit man der Bedienten entbehren und in Freiheit plaudern könnte? Weil dies zu angenehm wäre, versetzte sie, und die Langweiligkeit, es stets behaglich zu haben, am Ende die schlimmste von allen ist. Mehr brauchte ich nicht, um ihr System zu begreifen, und ich gestand mir, daß in der That die Kunst sich seine Freuden zu würzen nur darin besteht, haushälterisch mit ihnen umzugehen.
    Ich finde, daß sie sich sorgfältiger anzieht, als früher. Die einzige Eitelkeit, die man ihr ehedem vorzuwerfen hatte, war die, daß sie ihren Anzug vernachlässigte; die Stolze hatte ihre Gründe: sie ließ mir keinen Vorwand, ihre Macht in etwas Unrechtem zu suchen. Zwar mochte sie thun, was sie wollte, der Zauber, den sie übte, war zu groß, um ihn in etwas Natürlichem zu suchen: ich

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