Julie oder Die neue Heloise
ernähren.]
, die Bürger unmenschlich und unnatürlich machen? Was mich betrifft, fuhr Julie fort, so weiß ich nicht, was die Armen für den Staat sind, aber ich weiß, daß sie alle meine Brüder sind, und daß ich nicht ohne eine Härte, die nicht zu entschuldigen wäre, ihnen die kleine Hülfe versagen kann, um die sie mich ansprechen. Die meisten von ihnen sind Landstreicher, ich gebe es zu, aber ich kenne die Leiden des Lebens zu gut, um nicht zu wissen, durch wie viele Unglücksfälle ein ganz braver Mensch zu diesem Loose heruntergebracht werden kann; und wie kann ich wissen, ob nicht vielleicht gerade der Unbekannte, der eben im Namen Gottes meinen Beistand fordert und um ein armseliges Stückchen Brod bettelt, ein solcher braver Mensch ist, der im nächsten Augenblick vor Elend umkommen und durch meine Weigerung in Verzweiflung gerathen würde? Das Almosen, das ich an der Thür geben lasse, ist unbedeutend; einen halben Kreuzer und ein Stück Brod versagt man keinem; die, welche sichtlich Krüppel sind, erhalten das Doppelte. Wenn ihnen auf ihrem Umgange in jedem wohlhabenden Hause so viel zu Theil wird, so reicht das hin, um sie für den Marsch zu erhalten, und mehr ist man dem fremden Bettler, der des Weges kommt, nicht schuldig. Sei es für sie immerhin keine wahre Hülfe, es ist wenigstens ein Beweis, daß man an ihren Leiden Theil nimmt, eine Milderung der Härte, die im Nein liegen würde, eine Art Guten-Tag, den man ihnen bietet. Ein halber Kreuzer und ein Stück Brod kosten nicht viel mehr, und sind doch eine bessere Antwort als ein: Gotthelf! gleich als ob die Gaben Gottes nicht in der Hand der Menschen lägen, und als ob es auf Erden andere Kornböden gäbe, als die Speicher der Reichen! Kurz, wie man auch über diese Unglücklichen denke, wenn man dem Herumtreiber, der bettelt, Nichts schuldig ist, so ist man wenigstens sich selbst schuldig, der leidenden Menschheit, oder dem eigenen Bilde in ihr die Ehre zu geben und sich nicht das Herz beim Anblick menschlichen Elends zu verhärten.
So halte ich es in Betreff Derer, welche, so zu sagen, ohne Vorwand und im guten Glauben betteln; was die betrifft, welche sich Arbeiter nennen und über Mangel an Beschäftigung klagen, so findet sich hier immer für sie Handwerkszeug und Arbeit. Auf diese Weise hilftman ihnen, stellt ihren guten Willen auf die Probe, und die Lügner wissen das schon so gut, daß sich keiner mehr bei uns blicken läßt.
So, Milord, nimmt diese englische Seele aus ihren Tugenden stets die Mittel, alle eitele Spitzfindigkeit zu bekämpfen, mit welcher die Hartherzigen ihre Laster überkleiden. Alle diese kleinen Beschäftigungen und andere ähnliche rechnet sie unter ihre Freuden, und füllt damit einen Theil der Zeit aus, die ihr ihre liebsten Pflichten übrig lassen. Wenn sie Alles gethan hat, was sie Ändern schuldig ist, und endlich an sich selbst denkt, so kann auch das, was sie thut, um sich das Leben angenehm zu machen, wieder ihren Tugenden beigezählt werden. So löblich und ehrenwerth sind bei Allem ihre Beweggründe, und so viel Mäßigung und Vernunft herrscht in Allem, was sie ihren Neigungen bewilligt! Sie will ihrem Manne zu Gefallen leben, dem es lieb ist, sie zufrieden und heiter zu sehen: sie will ihren Kindern den Geschmack an unschuldigen Freuden beibringen, denen Mäßigung, Ordnung und Einfachheit Werth geben, und die das Herz von ungestümen Leidenschaften ablenken. Sie belustigt sich, um ihre Kinder zu belustigen, wie die Taube in ihrem Magen das Korn aufweicht, mit welchem sie ihre Kleinen ernähren will.
Julie ist an Seele und Leib von gleich zarter Empfänglichkeit. Gleiches Feingefühl ist ihrem Empfindungsvermögen und ihren Organen gegeben. Sie ist von Natur befähigt, jedes Angenehme zu schmecken und zu empfinden, und lange Zeit hat sie die Tugend selbst nur als den süßesten aller Genüsse so innig geliebt. Jetzt, da sie sich im ruhigen Genusse dieser höchsten Befriedigung befindet, versagt sie sich keine der Freuden, welche sich mit jener gatten können; aber in ihrer Art, sie zu genießen, findet sich etwas von der Strenge Derer, die sie sich versagen: die Kunst zu genießen besteht für sie in der des Entbehrens; es ist nicht die Rede von solchen peinlichen und schmerzlichen Entbehrungen, welche die Natur verwunden, und deren unsinniges Opfer der Schöpfer verschmäht, sondern von vorübergehenden mäßigen Entbehrungen, bei denen die Vernunft die Herrschaft behauptet, die, dem Vergnügen zur
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