Julie oder Die neue Heloise
Regelmäßigkeit gefallen jedem Auge; jedes Bild des Wohlseins und des Glückes rührt das menschliche Herz, welches danach lüstern ist: welche Vorstellung aber könnte ein eitler Prachtaufwand, der weder auf schöne Ordnung noch auf menschliches Glück zielt, und nichts Anderes zum Zwecke hat, als in die Augen zu fallen, dem Beschauer zu Gunsten Dessen machen, der ihn zur Schau stellt? Eine Vorstellung von Geschmack? Offenbart sich aber der Geschmack nicht tausendmal besser in einfachen Dingen, als in denen, welche mit Reichthum überladen sind? Oder eine Vorstellung von Bequemlichkeit? Giebt es aber etw^s Unbequemeres als überflüssige Pracht
[Das Geräusch der vielen Leute im Hause stört unablässig die Ruhe des Herrn; er kann vor so vielen Argusaugen nicht das Geringste verbergen. Die Schaar seiner Gläubiger läßt ihn die seiner Bewunderer theuer bezahlen. Seine Zimmer sind so prächtig, daß er gezwungen ist in einem Verschlage zu schlafen, um sich's bequem zu machen, und sein Affe wohnt manchmal besser als er. Wenn er speisen will, so hängt er von seinem Koche ab, und niemals von seinem Hunger; wenn er aus will, ist er von seinen Pferden tyrannisirt; tausend Hindernisse halten ihn in jeder Straße auf; er brennt vor Ungeduld, sen Ziel zu erreichen, und denkt nicht daran, daß er Beine hat. Chloe erwartet ihn, der Straßenkoth ist ihm ein Hinderniß, die Last des Goldes auf seinem Kleide zieht ihn zu Boden, er kann nicht zehn Schritte zu Fuße machen; aber wenn er ein Stelldichein mit seiner Geliebten einbüßt, so entschädigen ihn doch die Vorübergehenden; jeder bemerkt seine Livrée, bewundert sie und sagt ganz laut:l das ist der Herr von So und So.]
? Oder eine Vorstellung von Größe? Vielmehr gerade das Gegentheil! Wenn ich sehe, daß man einen großen Palast hat haben wollen, so frage ich sogleich: warum ist dieser Palast nicht größer? Warum hat Der, welcher fünfzig Bedienten hält, nicht hundert? Warum ist dieses schöne Silbergeschirr nicht von Gold? Warum, vergoldet der Mann, der seine Kutsche vergoldet, nicht seine Wände? Und wenn seine Wände vergoldet sind, warum ist es nicht auch sein Dach? Jene, die einen hohen Thurm zu bauen unternahmen, hatten ganz recht, daß sie ihn gleich bis an den Himmel bauen wollten; denn, was hätte es ihnen geholfen, ihn hoch zu bauen? Der Punkt, wo sie stehen geblieben wären, hätte nur aus desto größerer Ferne den Beweis ihrer Ohnmacht gegeben. O eitles Menschlein! Zeige mir deine Macht, ich will dir gleich deine Erbärmlichkeit zeigen.
Dagegen giebt eine Anordnung der Dinge, bei welcher der Meinung nichts nachgegeben ist, sondern Alles und Jedes seinen wahren Sinnund Nutzen hat, und sich darauf beschränkt, die wirklichen Anforderungen der Natur zu befriedigen, ein Schauspiel, welches nicht nur vor der Vernunft Billigung findet, sondern Augen und Herzen labt, indem sich der Mensch darin nur in den ihm angenehmen Beziehungen erblickt, gleichsam sich selbst genügend, indem sich das Bild seiner Schwäche dabei ihm nicht aufdrängt, indem dies lachende Gemälde keine traurigen Nebengedanken weckt. Zeigt mir den vernünftigen Mann, der eine Stunde lang den Palast eines Fürsten und die Pracht, welche darin glänzt, betrachten kann, ohne melancholisch zu werden, und das Loos der Menschheit zu beklagen. Aber der Anblick dieses Hauses und des gleichförmigen und einfachen Lebens seiner Bewohner flößt in die Seele des Beschauers einen geheimen Zauber, der sich fort und fort steigert. Eine kleine Anzahl von lieben, friedfertigen Menschen, durch das gegenseitige Bedürfniß und durch wechselseitiges Wohlwollen mit einander verbunden, arbeitet in mannichfaltiger Thätigkeit auf ein gemeinsames Ziel hin; indem jeder in seiner Lage Alles findet, dessen er bedarf, um zufrieden zu sein, und keine Veränderung derselben zu wünschen, gewinnt er Liebe zu ihr, wie zu einer solchen, in der man sein Lebenlang bleiben soll, und der einzige Ehrgeiz, den Jeder hat, ist der, die Pflichten seiner Stellung vollkommen zu erfüllen. Eine solche Mäßigung beherrscht Die, welche befehlen, und ein solcher Eifer Die, welche gehorchen, daß Gleichgestellte dieselben Geschäfte unter sich hätten vertheilt haben können, ohne daß irgend Einer sich über seinen Antheil beklagt haben würde. So beneidet denn Keiner den Antheil des Andern; Keiner glaubt, sein Wohl anders befördern zu können, als durch die Beförderung des Gemeinwohles; die Herrschaft selbst schätzt ihr Glück nur
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