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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sich besser durch ihre bloße Einfachheit, als andere durch all ihren Kunstfleiß; aber je mehr sie ausarten, desto mehr entwickeln sich ihre Talente, gleich als ob dieselben zum Ersatze für die verlorenen Tugenden dienen und auch die Schlechten selbst zwingen sollten, wider Willen nützlich zu wirken.
    Ein anderer Punkt, über welchen ich mich nicht recht mit ihr vereinigen konnte, war die Beschenkung der Bettler. Da hier eine Landstraße durchgeht, so finden sich viele ein, und keinem wird ein Almosen versagt. Ich stellte ihr vor, daß dies nicht nur ein weggeworfenes Geld wäre, dessen man den wahren Armen beraubte, sondern daß diese Gewohnheit auch dazu beitrüge, das Bettlerpack und die Landstreicher zu vermehren, welche an einem so elenden Handwerk Gefallen finden, und indem sie der Gesellschaft zur Last fallen, diese auch noch der Arbeit berauben, die sie ihr leisten könnten.
    Ich sehe wohl, sagte sie zu mir, daß Sie sich in den großen Städten die Grundsätze angeeignet haben, mit denen gefällige Wortdreher hartherzigen Reichen zu schmeicheln pflegen; Sie bedienen sich sogar der stehenden Ausdrücke dafür. Glauben Sie denn die Armen ihrer Menschenwürde zu berauben, indem Sie ihnen den verächtlichen Namen Bettlerpack anhängen? Erlaubt Ihnen das Ihr mitleidiges Herz? Thun Sie es nicht, mein Freund, ein solches Wort gehört nicht in IhrenMund; es ist entehrender für den Hartherzigen, der sich seiner bedient, als für den Unglücklichen, der damit belegt wird. Ich will nicht entscheiden, ob die Verächter des Almosengebens Recht oder Unrecht haben; ich weiß aber so viel, daß mein Mann, der an Einsicht euren Philosophen nichts nachgiebt und mir öfters erzählt hat, was sie in dieser Sache vorzubringen pflegen, um in dem Herzen das natürliche Mitgefühl zu ersticken und es zur Unempfindlichkeit zu gewöhnen, diese Phrasen, wie mir immer schien, verachtet und mein Verfahren nicht mißbilligt. Was er darüber sagt, ist einfach; nämlich, man duldet und unterhält mit großen Kosten eine Masse von unnützen Gewerben, von denen mehrere nur dazu dienen, die Sitten zu verschlechtern. Will man das Bettlerhandwerk nun auch als ein Gewerbe betrachten, so hat man von ihm nichts der Art zu fürchten, findet vielmehr durch dasselbe Gelegenheit, das Gefühl der Theilnahme und der Menschlichkeit, welches uns alle zu Brüdern machen sollte, zu nähren. Wenn man es unter dem Gesichtspunkte des Talents betrachten will, warum sollte ich die Beredsamkeit des Bettlers, der mich rührt, und mich bewegt ihm zu helfen, nicht belohnen, wie ich einen Schauspieler bezahle, der mir ein paar unfruchtbare Thränen ablockt? Wenn dieser mir Liebe zu den guten Handlungen Anderer einflößt, so bringt mich jener dazu, selbst welche zu verrichten; was man im Schauspiel empfindet, ist augenblicklich vergessen, sobald man hinaus ist; aber an den Unglücklichen, dem man beigestanden hat, denkt man mit immer neuem Vergnügen zurück. Wenn die große Anzahl der Bettler dem Staate lästig ist, von wie vielen andern Gewerben, die man aufmuntert und duldet, ließe sich nicht dasselbe sagen! Es ist die Sache der Verwaltung, dafür zu sorgen, daß es keine Bettler gebe; muß man aber, um ihnen ihr Handwerk zu verleiden
[Bettler ernähren, sagen sie, heißt Diebsschulen gründen. Gerade umgekehrt, es heißt machen, daß sie nicht zu Dieben werden. Ich gebe zu, daß man die Armen nicht zur Bettelei aufmuntern muß, wenn sie aber einmal dazu gebracht sind, muß man sie ernähren, damit sie nicht gezwungen seien, zu stehlen. Nichts führt so sehr zur Veränderung des Gewerbes, als wenn man nicht von dem seinigen leben kann; nun aber gewinnen diejenigen, welche dieses
müßige Handwerk einmal gekostet haben, einen solchen Abscheu vor der Arbeit, daß sie lieber stehlen und sich hlängen lassen, als wieder von ihren Kräften Gebrauch machen. Ein Pfennig ist bald gefordert und abgeschlagen; aber mit zwanzig Pfennigen könnte ein Armer sein Abendbrod bestreiten, den zwanzig abschlägliche Antworten ungeduldig machen können. Wer würde eine so kleine Gabe je versagen, wenn er bedächte, daß er damit zwei Menschen retten kann, den einen vom Verbrechen, den andern vom Tode? Ich habe irgendwo gelesen, daß die Bettler ein Ungeziefer sind, das sich an die Reichen hängt. Es ist ganz natürlich, daß sich die Kinder an die Väter hängen; aber diese vermögenden und harten Väter wollen sie nicht erkennen, und überlassen den Armen die Sorge sie zu

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