Julie oder Die neue Heloise
aller Ursache, die sie hatte, zufrieden zu sein, doch noch immer gern nicht zufrieden sehen mögen: eine wenn auch überflüssige Emsigkeit steht der mütterlichen Liebe so wohl an. Alles, was ich Gutes an diesen Kindern sah, hätte ich gern Juliens Bemühungen zugeschrieben, hätte gemocht, daß sie weniger der Natur und mehr ihrer Mutter verdankten: hätte fast ihnen Fehler gewünscht, um die Mutter voll Eifer zu sehen, diese zu verbessern.
Nachdem ich mich lange mit meinen Betrachtungen im Stillenbeschäftigt hatte, brach ich das Schweigen, um sie ihr mitzutheilen. Ich sehe, sagte ich, daß der Himmel die Tugend der Mutter durch die gute Gemüthsanlage ihrer Kinder belohnt; aber diese gute Anlage will ausgebildet sein. Von der Geburt an muß die Erziehung beginnen. Giebt es eine schicklichere Zeit, die Kinder zu bilden, als die, da sie noch nichts angenommen haben, was ausgerottet werden müßte? Wenn Sie sie vom frühesten Alter an sich selbst überlassen, wann soll für sie die Zeit der Folgsamkeit beginnen? Wenn Sie ihnen nichts weiter beizubringen hätten, so müßten Sie ihnen doch Gehorsam beibringen. — Merken Sie denn, versetzte sie, daß sie mir nicht gehorchen? — Wie sollte das zugehen, antwortete ich, wenn Sie ihnen nichts befehlen? Sie lächelte und sah ihren Mann an; dann nahm sie mich bei der Hand, und führte mich in das Kabinet, wo wir sprechen konnten, ohne von den Kindern gehört zu werden.
Indem sie mir hier in aller Muße ihre Ansichten auseinandersetzte, ließ sie mich erkennen, daß unter der scheinbaren Nachlässigkeit sich die wachsamste Aufmerksamkeit verbarg, die nur Mutterliebe aufzuwenden vermag. Lange, sagte sie, habe ich über die früheste Erziehung wie Sie gedacht, und während meiner ersten Schwangerschaft sprach ich, besorgt wegen aller der Pflichten und Mühen, die mir bevorstanden, öfters darüber mit Herrn von Wolmar. Wen hätte ich hierin besser zum Führer wählen können, als einen aufgeklärten Beobachter, der mit dem Interesse eines Vaters die Kaltblütigkeit eines Philosophen verband? Er erfüllte und übertraf meine Erwartungen, er zerstreute meine Vorurtheile, und belehrte mich, wie ich mir mit weit weniger Mühe einen weit ausgedehnteren Erfolg versprechen könne. Er leitete mich zu der Einsicht, daß der erste und wichtigste Theil der Erziehung, den gerade alle Welt übersieht
[Locke selbst, der weise Locke hat ihn übersehen; er spricht mehr von dem, was man von den Kindern fordern müsse, als von dem, was man thun müsse, um es zu verlangen.]
, der ist, daß man das Kind geschickt mache, erzogen zu werden. Ein Irrthum, welcher allen Eltern, wenn sie sich auch auf ihre Einsicht etwas zu Gute thun, gemein zu sein pflegt, ist der, daß sie sich ihre Kinder von Geburt an vernünftig denken, und zu ihnen wie zu Menschen reden, selbst schon ehe sie reden können. Die Vernunft ist das Werkzeug, dessen man sich bedienen will, um sie zu unterrichten, während doch erst die andern Werkzeuge dazu dienen müssen, dieses zubilden, und von allen Bildungselementen die Vernunft gerade dasjenige ist, welches der Mensch am spätesten und am schwersten erwirbt. Indem man mit ihnen vom frühesten Aller an eine Sprache spricht, die sie nicht verstehen, gewöhnt man sie, sich mit Worten zufrieden zu finden. Andere damit abzuspeisen, über Alles, was man ihnen sagt, zu vernünfteln, sich für ebenso klug, als ihre Eltern zu halten, streitsüchtig und eigensinnig zu werden; und wenn man sich einbildet, das, was man von ihnen erlangt, durch vernünftige Beweggründe erreicht zu haben, so irrt man sich: man hat es in der That nur durch die Beweggründe der Furcht oder der Eitelkeit erlangt, welche man stets gezwungen ist, jenen beizugesellen.
Es giebt keine Geduld, die nicht ein Kind, welches man so erziehen will, endlich müde machte. So sehen sich denn die Eltern, der ewigen Zudringlichkeit und Quälerei, die sie selbst den Kindern zur Gewohnheit gemacht haben, satt und überdrüssig, und wenn sie die Wirthschaft, welche die Kinder machen, gar nicht mehr ertragen können, gezwungen, sie von sich zu entfernen und Lehrern in die Hände zu geben. Als ob man je von Lehrern mehr Geduld und Sanftmuth erwarten dürfte, als ein Vater haben kann.
Die Natur, fuhr Julie fort, will, daß die Kinder Kinder seien, ehe sie zu Menschen werden. Wenn wir diese Ordnung umkehren wollen, so werden wir vorzeitige Früchte erzeugen, die weder Reife noch Wohlgeschmack erlangen und bald verderben. Wir
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