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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ich war, um das zu werden, was ich werden will.
    Nach sechs verlorenen Tagen müßigen Geschwätzes mit gleichgültigen Leuten haben wir heute einen Morgen
à l'Anglaise
verlebt, still vereinigt und froh des Beisammenseins, wie der Annehmlichkeit, sich in sich selbst sammeln zu können. Wie Wenige kennen den Genuß eines solchen Zustandes! Ich habe in Frankreich Niemanden gefunden, der den mindesten Begriff davon hätte. Unter Freunden stockt das Gespräch nie, sagen Sie. Es ist wahr, die Sprache giebt bei oberflächlichen Verbindungen leichtes Geplapper genug her; aber die Freundschaft, Milord, die Freundschaft! Lebendiges, himmlisches Gefühl, welche Worte wären deiner würdig? Welche Sprache wäre fähig, dich auszudrücken? Nie erreicht das, was man seinem Freunde sagt, das, was man an seiner Seite fühlt. Mein Gott! Wie beredt ist ein Händedruck, ein beseelter Blick, eine Umarmung, der Seufzer, der ihr folgt! Wie kalt nach dem Allen das erste Wort, das man ausspricht! O ihr Abende von Besançon! Ihr Augenblicke dem Schweigen geweiht und von der Freundschaft eingeerntet! O Bomston, große Seele, erhabener Freund! Nein, ich habe nie unwürdig empfangen, was du für mich thatest, aber ausgesprochen hat es dir mein Mund nie.
    Es ist gewiß, daß der Zustand stiller Versenkung einer der reizendsten für empfindsame Menschen ist. Aber ich habe immer gefunden, daß man ihn in Gegenwart lästiger Zeugen nicht genießen kann, und daß Freunde mit sich allein sein müssen, um mit einander nur so, wie es ihnen um's Herz ist, reden zu können. Man will sich, so zu sagen, in einander hineinfühlen; die geringste Zerstreuung ist zum Verzweifeln, der geringste Zwang nicht auszustehen. Wenn manchmal das Herz ein Wort dem Munde zuführt, ist es so süß, es ohne Zwang aussprechen zu können! Es ist, als ob man nicht frei zu denken wagte, was man nicht frei sagen darf; es ist, als ob die Gegenwart eines einzigen Fremden das Gefühl hemmte, und Seelen, die sich ohne ihn so gut verstehen würden, beklommen machte.
    Zwei Stunden verflossen so unter uns in dem stummen Entzücken, das, etwas tausendmal Süßeres ist, als die eisige Ruhe der Götter Epikur's. Nach dem Frühstück kamen die Kinder wie gewöhnlich in das Zimmer ihrer Mutter; aber anstatt sich mit ihnen, wie sie pflegt, in das Gynäceum zurückzuziehen, behielt sie sie da, um uns einigermaßen zu entschädigen für die Zeit, die wir verloren haben, ohne uns zu sehen, und wir verließen uns den ganzen Voimittag nicht. Henriette, die ein wenig zu nähen anfängt, arbeitete vor Fanchon sitzend, welche Spitzen machte, und ihr Klöppelkissen auf die Lehne von Henriettens Stühlchen gelegt hatte. Die beiden Knaben blätterten am Tische in einem Bilderbuche und der älteste erklärte dem jüngsten die Bilder. Henriette, die das ganze Buch auswendig weiß, hörte hin, und verbesserte geschwind, wenn er sich irrte. Oft stellte sie sich, als ob sie nicht recht wüßte, von welchem Bilde die Rede wäre, um einen Vorwand zu haben, aufzuspringen, und von ihrem Stuhle nach dem Tische und wieder zu ihrem Stuhle zurückzukehren. Diese Wanderungen machten ihr erstaunliches Vergnügen und trugen ihr jedes Mal ein Schmeichelwort von dem kleinen Männel ein, manchmal auch einen Kuß, den sein Mündchen noch nicht rechts anzubringen versteht, bei dem ihm aber Henriette, die schon besser Bescheid weiß, bereitwillig die Mühe abnimmt. Während dieser kleinen Lectionen, die ohne viel Umstände genommen und gegeben wurden, aber auch ohne den geringsten Zwang, hatte der Jüngste unter dem Buche Zitterhölzchen
[Ouchets, Zitterspiel, Federspiel, kleine Körper aus Holz, Elfenbein u. dgl. in Form von Stäbchen, Gabeln, Schlüsseln, Aexten u. dgl., welche man auf's Geradewohl verworren hinwirft und dann vermittelst eines Häkchens einzeln abzuheben sucht, wobei die Bedingung ist, daß durch die Beseitigung eines jeden keines der übrigen erschüttert werden darf. D. U.]
, mit denen er verstohlen spielte.
    Frau von Wolmar stickte am Fenster, den Kindern gegenüber; wir, ihr Mann und ich, saßen noch am Theetisch und lasen die Zeitung, auf die sie nicht viel Achtung gab. Als aber der Artikel von der Krankheit des Königs von Frankreich und der besondern Anhänglichkeit seines Volkes, die nie ihres Gleichen gehabt, außer der der Römer gegen den Germanicus, vorkam, machte sie einige Bemerkungen über die Gutherzigkeit dieser sanften und wohlwollenden Nation, welche von allen andern gehaßt wird, und

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