Julie oder Die neue Heloise
werden, sondern die, welche im Stillen am ländlichen Herde aus schlichten und dankbaren Herzen aufsteigen.
So vermag ein angenehmes und süßes Gefühl mit seinem Zauber ein Leben zu überziehen, das gleichgültigen Seelen unschmackhaft wäre; so kann Arbeit, Mühe und Einsamkeit zur Lust werden, wenn man die Kunst versteht, ihnen die rechte Richtung zu geben. Eine gesunde Seele kann Geschmack finden an gemeinen Beschäftigungen, wie Gesundheit des Leibes die einfachsten Nahrungsmittel zu den schmackhaftesten macht. Alle jene gelangweilten Menschen, denen es so schwer wird, etwas zu finden, das sie vergnügt, verdanken ihren Ekel nur ihren Lastern, und verlieren das Gefühl für das Vergnügen nur mit dem Gefühle für die Pflicht. Bei Julien ist es gerade umgekehrt gewesen; Mühwaltungen, die sie sonst aus einer gewissen Erschlaffung der Seele vernachlässigte, macht ihr der Beweggrund, welcher sie treibt, jetzt anziehend. Das wäre ein unempfindlicher Mensch, der sich durch nichts zur Regsamkeit bringen ließe. Die ihrige ist durch eben das entwickelt worden, was früher dieselbe zurückdrängte. Ihr Herz suchte die Einsamkeit und Stille, um sich in Frieren den Regungen hinzugeben, von welchen es durch und durch ergriffen war; jetzt ist sie zu neuer Rüstigkeit gelangt, seit sie ein neues Band geknüpft hat. Sie gehört nicht zu jenen thatlosen Müttern, welche es für genug halten, zu studiren, während es gilt zu handeln, welche damit, daß sie sich über die Pflichten Anderer unterrichten, die Zeit verlieren, welche sie nöthig hätten, um die eigenen zu erfüllen. Sie übt jetzt aus, was sie früher gelernt hat. Sie studirt nicht mehr, sie liest nicht mehr, sie wirkt. Da sie eine Stunde später aufsteht als ihr Mann, so legt sie sich auch eine Stunde später nieder. Diese Stunde ist die einzige Zeit, welche sie noch dem Studium widmet, und der Tag scheint ihr niemals lang genug für alle die Geschäfte, denen sie sich freudig unterzieht.
Das ist, Milord, was ich Ihnen zu sagen hatte, über die innere Einrichtung des Hauses und die Lebensweise der Herrschaft, die an seiner Spitze steht. Zufrieden mit ihrem Loose, genießen sie desselben in Stille; zufrieden mit ihrem Glücksstande, arbeiten sie nicht dahin, denselben für ihre Kinder zu vermehren, sondern ihnen mit dem Erbtheil, das ihnen zufällt, wohlgepflegte Ländereien, anhängliche Bediente, Lust zur Arbeit, Ordnung, Mäßigkeit zu hinterlassen, kurz Alles, was vernünftigen Menschen den Genuß eines mäßigen Vermögens, welches ebenso weislich erhalten als redlich erworben ist, lieb und reizend machen kann.
Dritter Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.
[Zwei zu verschiedenen Zeiten geschriebene Briefe betrafen denselben Gegenstand, wodurch viel unnütze Wiederholungen entstanden sind. Um diese zu beseitigen, habe ich beide Briefe in einen zusammengezogen. Uebrigens, wenn mir auch nicht einfällt, die außerordentliche Länge einiger Briefe dieser Sammlung zu rechtfertigen, will ich doch bemerken, daß Personen, die in ländlicher Zurückgezogenheit leben, selten, und dafür lange Briefe schreiben, während die Briefe von Personen, welche in der Welt leben, häufig und kurz sind. Man braucht auf diesen Unterschied nur zu achten, um den Grund davon augenblicklich einzusehen.]
Wir haben in diesen letzten Tagen Gäste gehabt, sie sind gestern abgefahren, und wir beginnen wieder unter uns Dreien einen Umgang, der um so reizender ist, als wir nichts mehr im innersten Herzen tragen, das einer vor dem andern zu verbergen wünschte. Welche Freude ist es für mich, ein neues Dasein zu beginnen, das mich Ihres Vertrauens würdig macht! Mir wird von Julie und ihrem Manne kein Beweis von Achtung und Liebe zu Theil, ohne daß ich mir mit einem gewissen stolzen Gefühle sagte: Endlich werde ich mich Ihnen zu zeigen wagen dürfen.In Folge Ihrer Bemühungen, unter Ihren Augen, hoffe ich meiner gegenwärtigen Lage durch das, was ich früher fehlte, Ehre zu machen. Wenn Erlöschen der Liebe die Seele in Ermattung stürzt, so verhilft ihr der Sieg über die Liebe durch das Bewußtsein, welches er schafft, zu neuer Erhebung und zu lebhafterem Gefühle für Alles, was groß und schön ist. Könnte man denn die Frucht eines Opfers, das Einem so schwer geworden, verlieren wollen? Nein, Milord, ich fühle, daß nach Ihrem Beispiel mein Herz aus allen den glühenden Empfindungen, die es überwunden hat, Gewinn ziehen wird; ich fühle, daß ich das gewesen sein muß, was
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