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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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gilt von unserer Fähigkeit, sie zu erwerben. Um einen Geist umzuschaffen, müßte man die innere Organisation umschaffen; um einen Charakter zu ändern, müßte man das Temperament ändern, durch welches er bedingt ist. Haben Sie je gehört, daß ein hitziger Mensch phlegmatisch geworden sei, oder daß ein überlegter und kalter Geist Phantasie erworben habe? Ich meines Theils meine, daß es ebenso leicht wäre, aus einer Brünette eine Blondine oder aus einem Dummkopf einen gescheidten Mann zu machen. Es wäre also ein vergebliches Unternehmen. wenn man die verschiedenen Geister nach einem gemeinschaftlichen Modell gießen wollte. Man kann ihnen Gewalt anthun, aber nicht sie ändern: man kann die Menschen verhindern, sich so zu zeigen, wie sie sind, aber nicht sie anders machen, als sie sind, und wenn sie sich auch im gewöhnlichen Laufe des Lebens verstellen, werden Sie sie doch bei allen außerordentlichen Anlässen in ihren ursprünglichen Charakter zurückfallen, und sich ihm um so ungeregelter hingeben sehen, da diese Hingabe unbewußt geschieht. Noch einmal, es ist nicht darum zu thun, den Charakter zu ändern und das Naturell zurecht zu bringen; sondern im Gegentheil, es so weit zu treiben, als es gehen kann, es anzubauen und Ausartungen zu verhüten, denn auf diesem Wege wird aus einem Menschen, was aus ihm werden kann, und das Werk der Natur wird in ihm durch die Erziehung vollendet. Also ehe man den Charakter zu bilden unternimmt, muß man ihn studiren, sein Hervortreten ruhig erwarten, und lieber sich alles Einwirkens enthalten, als zur Unzeit eingreifen. Manchem Geiste muß man Flügel machen, manchem anderen Fesseln anlegen; der eine will getrieben, der andere zurückgehalten sein; der eine verlangt eine liebreiche Behandlung, der andere muß in Furcht gehalten werden; hier ist es nöthig aufzuklären, dort dumm zu machen. Mancher Mensch ist dazu geschaffen, bis zu den äußersten Grenzen der menschlichen Erkenntniß vorzudringen, manchem Andern ist es sogar schädlich, wenn er auch nur lesen kann. Warten wir den ersten Funken von Vernunft ab! Sie ist die Kraft, welche den Charakter hervortreibt, und ihm seine wahre Form giebt. Auch nur mittelst ihrer baut man ihn an, und vor ihrem Auftreten giebt es keine wahre Erziehung für den Menschen.
    Was die von Julien ausgesprochenen Grundsätze betrifft, die Sie einander entgegenstellen, so weiß ich nicht, was Sie darin Widersprechendes finden; ich finde sie vielmehr vollkommen in Uebereinstimmung. Jeder Mensch bringt bei seiner Geburt einen Charakter, ein Genie, Talente mit, die ihm eigenthümlich sind. Diejenigen, welche dazu bestimmt sind, in ländlicher Einfachheit zu leben, bedürfen, um glücklich zu sein, nicht der Entwickelung ihrer Fähigkeiten, und ihre vergrabenen Anlagen sind gleich den Goldminen in Wallis, deren Ausbeutung das öffentliche Wohl nicht erlaubt. Aber in demjenigen Zustande der bürgerlichen Gesellschaft, wo man weniger der Arme als der Köpfe bedarf, und wo Jeder es sich und den Andern schuldig ist, mit seinem ganzen, Werthe einzutreten, ist es darum zu thun, daß man Alles aus den Menschen hervorhole, was die Natur in sie gelegt hat, ihnen diejenige Richtung gebe, in welcher sie am weitesten gehen können, und vorzüglich ihren Neigungen alle Nahrung zuführe, welche dazu dienen kann, sie zu nützlichen Kräften zu machen. Im ersteren Falle nimmt man nur auf das Allgemeine Rücksicht. Jeder thut, was alle Andern thun, das Beispiel ist die einzige Regel, die Gewohnheit das einzige Talent und Jeder übt nur diejenigen Seelenkräfte, die er mit allen Andern gemein hat. Im zweiten Falle faßt man den Einzelnen in's Auge, den Menschen als solchen; man bereichert sein Wesen mit Allem, was ihn vor Andern auszeichnen kann. Man geht mit ihm so weit, als seine Natur es verstattet, und man wird aus ihm den größten Mann machen, wenn er das in sich hat, was dazu erforderlich ist. Diese Maximen widersprechen einander sowenig, daß ihre Anwendung für das früheste Alter sogar die nämliche ist. Man unterrichtet das Kind des Landmannes nicht, denn es dient ihm nicht, unterrichtet zu werden; man unterrichtet das Kind des Städters nicht, denn man weiß noch nicht, welcher Unterricht ihm dienlich sein wird. In beiden Fällen sorge man nur für die Ausbildung des Körpers, bis die Vernunft zu tagen anfängt; dann ist es Zeit sie anzubauen.
    Das Alles würde ich sehr gut finden, sagte ich, wenn ich nicht einen Uebelstand dabei bemerkte, der den

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