Julie oder Die neue Heloise
werden junge Doctoren und alte Kinder haben. Die Kindheit hat ihre eigene Art zu denken, zu sehen, zu fühlen; nichts ist weniger vernünftig, als ihr unsere Art aufzwingen zu wollen, und ich könnte ebenso gut fordern, daß ein Kind fünf Fuß hoch sein, als daß es zu zehn Jahren Verstand haben solle.
Die Vernunft fängt nur mit den Jahren sich zu bilden an; erst wann der Körper eine gewisse Festigkeit erlangt hat. Die Natur will also, daß der Körper gestärkt werde, ehe man den Geist übt. Kinder sind immer in Bewegung. Ruhe, Nachdenken ist ihrem Alter zuwider, eine sitzende und angestrengte Lebensart verhindert sie, zu wachsen und sich zu entwickeln; weder ihr Geist noch ihr Körper kann den Zwang ertragen. Wenn man sie beständig im Zimmer bei den Büchern eingeschlossen hält, verlieren sie ihre ganze Rüstigkeit, sie werden schwächlich, zärtlich, ungesund, verdummen eher, als daß sie klug werden, und die Seele hat das ganze Leben lang die Verschwächung des Körpers zu empfinden.
Und wenn selbst aller vorzeitige Unterricht für die Ausbildung des kindlichen Geistes so vortheilhaft wäre, als er nachtheilig ist, so würde es doch noch immer sehr übel gethan sein, ihn allen ohne Unterschied, und ohne Rücksicht auf das, was die Fähigkeit jedes einzelnen Kindes erfordert, zu ertheilen. Außer der der Gattung gemeinsamen Beschaffenheit bringt jedes Kind bei der Geburt ein besonderes Temperament mit zur Welt, welches sein Wesen und seinen Charakter bestimmt, und welches nicht gezwängt und verändert, sondern gebildet und vervollkommnet sein will. Alle Charaktere sind nach Herrn von Wolmar's Meinung gut und gesund an sich. Die Natur, sagt er, irrt sich nicht
[Diese gewiß richtige Lehre nimmt mich bei Herrn von Wolmar Wunder, man wird bald sehen, weshalb.]
; alle Fehler, welche man der Naturanlage beimißt, sind nur eine Wirkung der schlechten Formen, die man ihr aufgedrückt hat. Es giebt keinen Bösewicht, dessen Hang, wenn er besser geleitet worden wäre, nicht große Tugenden erzeugt hätte. Es giebt keinen verkehrten Geist, dem man nicht nützliche Talente abgewonnen hätte, wenn man ihn von einer gewissen Seite hätte nehmen wollen, wie jene unförmlichen und verzerrten Figuren, welche sich schön und wohlproportionirt darstellen, wenn man sie in den rechten Gesichtspunkt bringt. Alles trägt im Weltsysteme zum gemeinen Wohle bei. Jeder Mensch hat seine Stelle, die ihm in der besten Weltordnung angewiesen wäre; es kommt nur darauf an, diese Stelle ausfindig zu machen und die Ordnung nicht umzukehren. Was ist die Folge einer Erziehung, die von der Wiege beginnt, und stets nach derselben Formel abgemessen wird, ohne Rücksicht auf die wundersame Mannigfaltigkeit der Geister? Dies, daß man den Meisten schädlichen oder falsch angebrachten Unterricht ertheilt, daß man ihnen denjenigen vorenthält, der für sie geeignet wäre, daß man die Natur von allen Seiten einzwängt, daß man die großen Eigenschaften der Seele tilgt, um kleine und nur scheinbare, die keine Wirklichkeit haben, an ihre Stelle zu setzen, daß man so viele verschiedene Talente, unterschiedslos zu denselben Thätigkeiten bildend, alle durcheinander mengt und das eine durch das andere vernichtet: daß man nach vieler Anstrengung, die man damit verschwendet hat, in den Kindern die wahren Gaben der Natur zu verderben, den vergänglichenund nichtigen Glanz, den man ihnen vorgezogen hat, bald erblinden sieht, ohne daß die erstickte Naturanlage jemals wiederkehrt; daß man das, was man zerstört und das, was man geschaffen hat, zugleich verliert, und daß endlich, zum Lohne für so viel verlorene Mühe, alle diese kleinen Weltwunder zu Geistern ohne Kraft und zu Menschen ohne Verdienst werden, die sich durch nichts bemerklich machen, als durch ihre Schwäche und Unbrauchbarkeit.
Mir sind diese Grundsätze einleuchtend, sagte ich zu Julie, aber ich weiß nicht recht, wie ich sie mit der Ansicht zusammenbringen soll, welche Sie äußerten, daß die Entwickelung des besondern Genies und der besondern Gaben jedes Einzelnen nicht gerade vortheilhaft sei, weder für sein eigenes Glück, noch für das wahre Wohl der Gesellschaft. Ist es nicht unendlich besser, sich ein vollkommenes Bild zu machen von dem vernünftigen und guten Menschen, und sodann jedes Kind vermittelst der Erziehung diesem Vorbilde näher zu bringen, indem man das eine spornt, das andere im Zügel hält, die Leidenschaften bekämpft, den Verstand vervollkommnet, die Natur
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