Julie oder Die neue Heloise
Gottheit emporzutreiben. Ein mehr sinnlicher Cultus gewährt dem Geiste des Volkes einen Ruhepunkt; solche Gegenstände der Frömmigkeit, die es der Mühe überheben, an Gott zu denken, sind ihm willkommen. Haben denn also die Katholiken so unrecht gehabt, ihre Legenden, ihren Kalender, ihre Kirchen mit kleinen Engeln, holden Knäbchen und schönen heiligen Jungfrauen anzufüllen? Das Jesuskind in den Armen einer reizenden und züchtigen Mutter ist zu gleicher Zeit eines der rührendsten und eines der angenehmsten Bilder, welche die christliche Devotion dem Auge der Gläubigen darbieten kann.]
Wenn ich mich zu ihm erbeben will, so weiß ich nicht, wo ich bin; da ich keine Beziehung zwischen ihm und mir finde, so weiß ich nicht, wie ich ihn ergreifen soll: ich sehe, ich fühle nichts mehr, ich gehe gleichsam im Nichts unter, und wenn ich von mir auf Andere schließen dürfte, so fürchte ich, daß die Extasen der Mystiker weniger aus einem vollen Herzen, als aus einem leeren Kopfe kommen.
Was soll ich also thun, fährt sie fort, um den Phantomen eines sich verirrenden Denkens zu entrinnen? Ich setze einen Cultus, der zwar grober Art, aber für mich erreichbar ist, an die Stelle jener erhabenen Contemplationen, die meine Kräfte übersteigen. Ich ziehe, wenn auch ungern, die göttliche Majestät herab, stelle zwischen sie und mich sinnliche Gegenstände; da ich sie nicht in ihrem Wesen anschauen kann, so schaue ich sie wenigstens in ihren Werken an, und liebe sie in ihren Wohlthaten; aber wie ich es auch anfangen mag, statt der reinen Liebe, welche sie erheischt, habe ich nur eine eigennützige Erkenntlichkeit ihr darzubringen.
So wird in einem empfindsamen Herzen Alles zur Empfindung. Julie erblickt in der ganzen Welt nur Gegenstände, die sie rühren und dankbar stimmen; überall bemerkt sie die wohlthätige Hand der Vorsehung; ihre Kinder sind das theure Pfand, das diese ihr anvertraut hat. Ihre Geschenke sammelt sie in den Erzeugnissen des Bodens ein, durch ihre Fürsorge sieht sie ihren Tisch besetzt, unter ihrem Schutze schläft sie ein, von ihr hat sie ihr heiteres Erwachen, im Mißgeschick fühlt sie ihre erziehende Hand und im Erfreulichen ihre Gunst, das Gute, das Jeder, der ihr theuer ist, genießt, ist abermals ein Gegenstand ihres Preises. Wenn sich der Gott des Alls ihren schwachen Augen entzieht, sieht sie doch überall den gemeinsamen Vater der Menschen. So die Wohlthaten des Höchsten erkennen, heißt das nicht dem unendlichen Wesen dienen, so viel man kann?
Nun stellen Sie sich vor, Milord, was für eine Qual es ist, mit Dem in Einsamkeit zu leben, der unser Dasein theilt, und die Hoffnung nicht theilen kann, die in unsern Augen erst demselben Werth giebt, nicht mit ihm die Werke Gottes segnen, noch von der seligen Zukunft sprechen zu können, die uns Gottes Güte verheißt, ihn Gutes thun und unempfindlich gegen das, was uns das Thun des Guten angenehm macht, ihn im seltsamsten Widerspruche mit sich selber gottlos denken und christlich leben zu sehen! Denken Sie sich Julie auf Spaziergängen mit ihrem Manne, sie in dem reichen glänzenden Schmuck der Erde das Werk und das Geschenk des Urhebers aller Dinge bewundernd, ihn in dem Allen nichts als eine zufällige Verknüpfung erblickend, bei welcher nur eine blinde Kraft gewaltet hat. Denken Sie sich zwei zärtlich verbundene Gatten, die nicht wagen, aus Furcht sich gegenseitig Anstoß zu geben, er, sich den Betrachtungen, sie, sich den Gefühlen zu überlassen, welche die umgebenden Gegenstände in ihnen wecken, und gerade durch ihre Liebe genöthigt, sich beständigen Zwang anzuthun. Wir gehen fast nie mit einander spazieren, Julie und ich, ohne daß irgend ein überraschend malerischer Blick diese schmerzlichen Gedanken in ihr aufregt. Ach, sagt sie mit Wehmuth, das Schauspiel der Natur, das für uns so lebendig, so beseelt ist, es ist todt in den Augen des unglücklichen Wolmar, und in der Harmonie der Wesen, worin Alles mit so süßer Stimme Gott verkündigt, findet er nur ein ewiges Stillschweigen. Sie kennen Julien, Sie wissen, wie diese mittheilende Seele es liebt, sich auszusprechen, Sie können sich denken, wie schmerzlich ihr diese Zurückhaltung schon sein müßte, wenn kein Uebelstand weiter damit verbunden wäre, als diese traurige Getheiltheit zwischen Personen, denen Alles gemein sein sollte. Aber noch trübseligere Gedanken knüpfen sich an diesen, die sie nicht zurückweisen kann. Vergeblich sucht sie sich der Angst zu erwehren,
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